Blickpunkt:Film

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VideoWoche: Wie kam es dazu, dass Ende 1989 und im Laufe des Jahres 1990 so viele Bürger der ehemaligen DDR auf die Idee kamen, eine Videothek zu eröffnen?

Dr. Erhard Kranz: Allgemein gesprochen, war die Zeit damals einfach reif für Video. Was viele nicht wissen, ist, dass bereits seit Mitte der 80er Jahre in die DDR Videorekorder importiert wurden, wenn auch in kleinen Stückzahlen und zu sehr teuren Preisen. Im Kulturministerium wurde sogar seinerzeit geprüft, wie mit dem neuen Medium umgegangen werden soll. Man kann also sagen, dass es schon zu DDR-Zeiten in der Bevölkerung eine "Atmosphäre" für Video gab. Das massenhafte Videoausleihen nach der Wende war aber dann auf den enormen Nachholbedarf zurückzuführen, endlich das zu sehen, was jahrzehntelang vorenthalten oder sogar verboten war: harte Action-, Horror- und Science fiction-Filme und - was nicht verschwiegen werden sollte - Hardcore-Titel. Videoausleihen war vielleicht zu dieser Zeit auch Ausdruck des Willens, jetzt endlich selbst bestimmen zu wollen, welche Filme man sich ansieht. Videotheken waren natürlich für das Anbieten dieser Vielfalt von Filmen prädestiniert. Jeder hatte damals seine individuellen Beweggründe, eine Videothek aufzumachen, aber ich möchte zwei Motive ansprechen. Die Allermeisten haben in der Umbruchsituation einen Weg gesucht, in der Marktwirtschaft Fuß zu fassen, um sich eine neue Existenz aufzubauen. Das Gewerbe "Videothekenbetrieb" schien vielen lukrativ und erfolgversprechend. Zum andern waren es filminteressierte Menschen, die sich beispielsweise in der Filmclub-Bewegung engagiert hatten, die jetzt ihre Interesse beruflich einsetzen wollten. Daneben gab es auch den Typus, der mit Video einfach die schnelle Mark verdienen wollte.

VW: Apropos "schnelle Mark". Welche Rolle spielten damals die Westvideothekare?

Dr. EK: Verständlicherweise haben einige die Umbruchsituation im Osten genutzt, um sich neu zu sanieren. Da wurden alte Film aus den Kellern für viel Geld verscherbelt. Verwerflich dabei, dass oft darunter auch verbotene Filme waren oder es wurden unseriöse Verträge gemacht. Es wäre aber falsch zu sagen, dass alle Westvideothekare "Abzocker" gewesen seien. Ich will ausdrücklich betonen, dass die meisten sehr uneigennützig gehandelt haben, in dem sie ihren neuen Ostkollegen Videos und Ladeneinrichtung, vor allem aber ihr fachliches Know How und ihre Erfahrung zur Verfügung gestellt haben. Ohne diese Hilfe wäre die Entwicklung der Videotheken-Branche im Osten nicht so schnell gegangen.

VW: Was waren die dringendsten Aufgaben, die der IVD in der ersten Zeit zu bewältigen hatte?

Dr. EK: Der IVD hat sehr frühzeitig versucht, auf die Entwicklung Einfluss zu nehmen, was aufs Vielfältigste geschah. Bereits 1989 wurde bei der Gründung des IVD der DDR Unterstützung gewährt. Noch zu DDR-Zeiten hat der IVD Gespräche mit dem damaligen Kulturministerium gesucht. Gemeinsam wurden erste Seminare zu Problemen der Videobranche mit den Kreis-Jugendämtern und Gewerbebehörden organisiert, die dann mit Unterstützung der neuen Landesregierungen bis ins Jahr 1993 fortgesetzt wurden. Zu den Behörden wurden interessante Arbeitskontakte hergestellt, die teilweise heute noch bestehen. Schließlich war es dringend notwendig, den Neuvideothekaren möglichst schnell Wissen über den Betrieb einer Videothek und die einschlägigen Gesetze zu vermitteln. Der IVD organisierte dazu an Wochenenden Informationsveranstaltungen, die in den ersten Jahren an vielen Orten durchgeführt wurden. Neben dem Einsatz von Hans-Peter Lackhoff muss an dieser Stelle vor allem der kürzlich verstorbene Dieter Königshausen genannt werden, der unermüdlich durch die neuen Bundesländer reiste, um den Händlern mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Erwähnt werden muss noch, dass sich im Oktober 1990 Ost- und West-IVD erfolgreich und ohne Probleme vereinigt und die Ostkollegen im IVD sofort gleichberechtigt behandelt wurden.

VW: Aus welchen Gründen haben die meisten Videothekare in den neuen Bundesländern ihre Geschäfte schließen müssen?

Dr. EK: Ganz simpel gesagt: Es waren einfach zu viele. In den Jahren 1990/1991 gab es im Osten etwa 4000 Videotheken oder Videoverleihstellen, also nicht sehr viel weniger als heute in der ganzen Bundesrepublik. Wie sollte das gut gehen? Ab 1992 setzte dann eine rückläufige Entwicklung ein, die nichts mit Verdrängungswettbewerb zu tun hatte, sondern mit der bloßen Tatsache, dass nicht alle überleben konnten. Die Verdrängungsmechanismen wurden wirksam, als die Westvideothekenketten begannen, verstärkt Filialen im Osten zu eröffnen und dann teilweise mit Dumping-Verleihpreisen operierten. Dem konnten viele Ost-Händler nicht standhalten. Es gab aber auch Händler, die mit Videoverleih das Geld verdient hatten, um dann in andere Betätigungsfelder zu überzuwechseln.

VW: Kann man sagen: "Wer 1990 als Videothekar angefangen hat und heute noch existiert, hat sich durchgesetzt"?

Dr. EK: Darauf kann ich ganz knapp mit Ja antworten. Wer 1990 angefangen und heute noch dabei ist, der ist auf seine Weise ein "gestandener" Videothekar, der es verstanden hat, durch sein Angebot und die Atmosphäre seines Geschäfts die Kunden für sich zu gewinnen. Ohne diese Stammkunden könnte keine Videothek überleben.

VW: Vor einigen Jahren war noch von West/Ost-Differenzen die Rede. Gibt es die noch?

Dr. EK: Differenzen bestehen weniger in internen Problemen der Videobranche oder in den handelnden Personen, sondern meines Erachtens in den vorhandenen Rahmenbedingungen. An erster Stelle wäre die Arbeitslosigkeit zu nennen, die in Ostdeutschland immer noch weitaus höher ist. Daraus ergibt sich eine geringere Kaufkraft, was sich wiederum auf die Umsätze auch der Videotheken auswirkt. Dazu kommt das Phänomen der Wochenend-Pendler: Das sind meist jüngere Menschen, die im Osten wohnen, aber im Westen arbeiten, und sich an ihrem Heimatort im Osten keine Filme ausleihen können. Außerdem verändert sich in den neuen Bundesländern die Altersstruktur. Junge Leute ziehen verstärkt von Ost nach West und gehen hier als leihaktive Kunden verloren. Zu den Videotheken selbst ist zu sagen, dass die Ostvideothekare meist nur eine geringe Kapitaldecke haben. Dadurch sind sie anfälliger für extreme Marktschwankungen. Wer keine Reserven hat, kann schneller pleite gehen und ist auch nicht so risikiofreudig für Neuerungen. Ein weiterer Unterschied liegt darin, dass in Ostdeutschland sehr viel mehr Klein- und Kleinstvideotheken bestehen. Deren Inhaber leben oft am Rande des Existenzminimums oder betreiben ihr Geschäft weiter, weil Film ihr Hobby ist. Mehr als Hobby. Mit wenigen Ausnahmen ist es den Ostvideothekaren auch nicht gelungen, Filialbetriebe zu eröffnen. Die meisten besitzen nur ein Geschäft. In ihrer überwiegenden Mehrheit haben sich heute die Videotheken im Osten ebenfalls zu Mediatheken entwickelt, die durchaus zu Recht den Anspruch erheben, eine kulturelle Freizeiteinrichtng zu sein. Vielerorts wird dieses neue, moderne Bild der Videotheken von den Filialen der Ketten mitgeprägt. Leider gibt es auch hier noch negative Beispiele, die es eigentlich nicht mehr geben dürfte.

Dr. Erhard Kranz (IVD) über die Entwicklung der Ost-Videotheken