Blickpunkt:Film

Dass die letzte [TeleVisionale](/company/televisionale-film-und-serienfestival-baden-baden) im Baden-Badener Kurhaus trotz verkürzter Filmvorführungen, als bereicherndes Erlebnis in Erinnerung bleiben wird, hat auch mit den exzellent besetzten Jurys zu tun. [Anna Brüggemann](/person/anna-brueggemann) und [Samira El Ouassil](/person/samira-el-ouassil) aus der Fernsehfilm-Jury sprachen wenige Stunden vor Bekanntgabe der Gewinner und Gewinnerinnen mit Blickpunkt:Film über ihre Eindrücke vom Podium.   

**Welchen Bezug haben Sie zur TeleVisionale, haben Sie das Festival bereits in der Vergangenheit verfolgt oder ist das für Sie Neuland?**

SAMIRA EL OUASSIL: Ich habe schon Juryerfahrungen im Bewegtbild-Bereich gesammelt, zum Beispiel beim Grimme Preis oder bei der Duisburger Filmwoche und war beim Durcharbeiten der Filme für den Deutschen Filmpreis viel in der Bewertungsbetrachtung. Aber hier bei der TeleVisionale bin ich das erste Mal, kannte aber das Festival natürlich schon vorher.

ANNA BRÜGGEMANN: Ich habe auch schon mannigfache Juryerfahrungen, etwa bei First Steps oder Achtung Berlin. Hier war ich noch nie. Ich glaube aber, dass hier schon Filme gelaufen sind, in denen ich mitgespielt habe. Mein Bruder war hier auch mal zu Gast, und ich bin mit Lavinia Wilson befreundet, die war hier vor zwei Jahren in der Serienjury, und beide waren begeistert von dem Format und haben mir dazu geraten, das zu machen. Dass man hier auf der Bühne die Filme und Serien bespricht ist ja eigentlich die einzig faire Art der Jurysitzung.

**Wie empfinden Sie das, kostet es Überwindung, nicht nur vor Publikum, sondern vor allem auch vor den Teams, den Kreativen deren Filme zu kritisieren?**

ANNA BRÜGGEMANN: Es schärft noch mehr die Fähigkeit, die man ohnehin in der Juryarbeit haben muss, dass man immer versucht, konstruktiv zu schauen. Was hätte den Film noch besser gemacht, wenn einem als „gut reaction“ irgendwas nicht gefällt? Das muss man dann noch mehr schärfen, um eben nicht einfach nur dazusitzen und zu sagen, das hat mich genervt. Man sollte benennen können, was einem gefehlt hat oder sich fragen, wie der Film unter diesen oder jenen Umständen geworden wäre. Ich empfinde es schon als eine Überwindung, aber auch als sehr gutes Training.

SAMIRA EL OUASSIL: Absolut. Ich glaube, das Interessante an unseren Gesprächen ist der Umstand, dass wir nicht versuchen, auf Applaus hin zu sprechen oder auf einen negativen Affekt den Schwerpunkt zu legen, weil Verrisse manchmal unterhaltsam sind. Ich befürchtete, dass das Wissen, dass man seine Kritik direkt an die Schaffenden adressiert, die Bewertungstemperatur oder den Sound nicht zwangsläufig produktiver macht, sondern im schlechtesten Fall eher verschärft. Hier finde ich das aber ungemein fruchtbar und wertschätzend. Das ist vielleicht die respektvollste oder auch die sinnvollste Form von Kritik, nämlich die, die den Macher:innen erlaubt dazuzulernen und den Kritiker:innen, sich selbst zu hinterfragen, in ihren Kritiken, in ihren ersten Impulsen, in ihren Gefühlen. Dieses Herstellen einer Augenhöhe zwischen Jury und Adressierten macht dieses Festival so spannend, weil wir wirklich über Filme sprechen und nicht über Gefühligkeiten oder Nebenaspekte, sondern tatsächlich über das Handwerk, die Ausführung, die Intention, die Idee. Dadurch hat es fast etwas von einem Workshop, wie es Urs Spörri mal so schön formuliert hat.

**Die große Aufmerksamkeit gehört seit einigen Jahren vor allem den Serien. Sie fühlen sich deshalb aber nicht im falschen Film, weil sie in der Fernsehfilm-Jury sitzen?**

SAMIRA EL OUASSIL: Serielles Erzählen finde ich unglaublich spannend. Ich schaue auch alle verheißungsvollen Serien, die gerade besprochen und verhandelt werden. Aber es ist ein komplett anderes Erzählen. Und die Form, die ein Film mit sich bringt, hat andere Herausforderungen, einen anderen Anspruch, zum Beispiel der erzählerischen Effizienz und auch darin, wie konzise etwas vermittelt wird. Das finde ich total faszinierend. Das ist auch etwas, das mich elektrisiert, wenn es gelingt. Deswegen kann ich einem sehr guten 90-Minüter fünfzig Mal mehr abgewinnen als einer okayen sechsteiligen Serie. Deswegen fühle ich mich hier extrem zu Hause und sehr wohl.

ANNA BRÜGGEMANN: Ich glaube, ich hätte in der Serienjury mehr lernen können, weil ich einfach selber noch nicht viel Serie geschrieben oder gespielt habe. Aber da ich ja nun mal sowohl im Kino als auch im Fernsehen einfach immer im Filmformat unterwegs bin, bin ich hier als Jurorin richtig. Den Fernsehfilm an sich finde ich eine sinnvolle Einrichtung, weil es sehr schön ist, eine Geschichte mit einem Anfang und einem Ende zu erzählen. Klar, das serielle Erzählen ist eine ganz tolle Chance. Aber auch psychisch gesehen ist es sehr wichtig, dass es den Fernsehfilm gibt.

SAMIRA EL OUASSIL: Wir besprechen ja auch Filme, die in einem seriell gedachten Kosmos existieren. Der „Tatort“ muss seine Geschichte in einer bestimmten Welt mit dem Korsett der vorgegebenen Figuren erzählen. Ich finde das noch mal einen ganz anderen Anspruch. Insbesondere, wenn wir als Juror:innen nicht garantieren können, dass wir mit so einer Reihe vertraut sind. Wir haben im Wettbewerb einen „Polizeiruf“ aus Halle, einen Zürcher „Tatort“ und einen „Landkrimi“ aus dem Vorarlberg, die auch in der Fortsetzung erzählt werden. Ich habe diese drei Formate zum ersten Mal gesehen, kannte die Figuren und ihre Backstories nicht. Ich kannte den Kosmos nicht, in dem sie existieren. Das dann so zu erzählen, dass es die, die es schon kennen, nicht verschreckt und die, die es noch nicht gesehen haben - ich hasse das Wort, aber hier passt es hoffentlich - abholt, halte ich für eine spezifische Kunst des televisiven filmischen Erzählens.

**Haben Sie einzelne Filme schon vor Ihrer Jury-Tätigkeit gekannt oder hätten sie auch gesehen, wenn Sie jetzt nicht in der Jury gewesen wären?**

SAMIRA EL OUASSIL: Ein paar hatte ich schon vorher gesehen. „Sie sagt. Er sagt.“ zum Beispiel oder „Silber und das Buch der Träume“. Ich weiß auch nicht, was es über meine Medienrezeption aussagt, dass ich mit den Krimis meinen ersten „Kontakt“ jetzt im Rahmen der Televisionale hatte.

ANNA BRÜGGEMANN: Ich hatte nichts gesehen, aber ich habe auch die letzten vier Jahre in Isolation verbracht, was das Künstlerische betrifft, weil ich geschrieben habe und keine Kapazitäten für irgendwas hatte. Ich habe einfach alle zehn Filme neu geschaut.

**Können Sie versuchen, anhand der zehn Filme, die sie gesehen haben, abzuleiten, wie es um den Fernsehfilm, um die deutsche TV-Fiction steht?**

SAMIRA EL OUASSIL: Ich fand zwei Aspekte bemerkenswert, weil sie auch als Intention der Filmemacher:innen in unseren Gesprächen verbalisiert worden sind. Zum einen, den Unsichtbaren eine Sichtbarkeit oder den Stimmlosen eine Stimme zu geben. Sich in gesellschaftliche Gruppen zu begeben, die im deutschen Fernsehen weniger oder oftmals schlecht verhandelt werden, fand ich in einigen Produktionen wichtig, relevant und gut gemacht, insbesondere was zum Beispiel die Darstellung von Armut, eines prekären Lebens und auch Klassenbewusstsein anbelangt. Auch Menschen, die in einem anderen Dispositiv leben, ökonomisch und soziologisch. Ein zweiter Aspekt, der mir ein paar Mal gewahr wurde, ist eine Form von Dekonstruktion alter Sehgewohnheiten. Man versucht, aus dem Korsett auszubrechen und zugleich mit der Form zusammen etwas Neues zu schaffen. Das war beim „Tatort“ so, der ein neues Tempo, eine neue Dynamik an den Tag gelegt hat. Beim Landkrimi war das fast wie eine Metaerzählung. Der unzuverlässige Erzähler hat hier eine neue Ebene reingebracht, mit der ich nicht gerechnet habe, eben weil ich so eingefahren bin in meinen Seherfahrungen in Bezug auf deutsches Fernsehen. „Eher fliegen hier UFOs“ ist ein weiteres Beispiel, wo etwas aufgebrochen wurde und deshalb so überrascht und funktioniert, weil man nicht damit gerechnet hat.

ANNA BRÜGGEMANN: Stichwort Sehgewohnheiten. Ich bin tatsächlich bei dieser Juryarbeit immer auf der Suche nach Sachen, die ich so noch nicht kenne. Es gibt ja wirklich auch ausgetretene Pfade der Qualität, auf die ich aber inzwischen etwas allergisch reagiere. Ich habe das Gefühl, es gibt eine Handvoll von Leuten, die neue Wege beschreiten wollen und das auch sehr tapfer machen und auch in den Redaktionen Unterstützer haben. Ich glaube aber, diesen Leuten könnte man noch mehr vertrauen. Die kratzen an der Decke und ich finde, man müsste sie fliegen lassen.

**Sehr guter Punkt. Könnten Sie die „ausgetretenen Pfade der Qualität“ etwas plastischer beschreiben?**

ANNA BRÜGGEMANN: Es gibt natürlich Themen, wo von Anfang an Anspruch draufsteht, vor denen es von Anfang an großen Respekt gibt, den man dann aber auch kritisch beleuchten muss. Bei den von Samira genannten Beispielen, dem Zürcher „Tatort: Von Affen und Menschen“ oder bei „Eher fliegen hier UFOs“ steht erstmal nicht groß Qualität und Anspruch drauf, aber die Filmemacherinnen und Filmemacher sind so sachbezogen und fordern sich selber mit so einer Lust, dass der Anspruch von ganz alleine kommt, also intrinsisch ist und nicht extrinsisch draufgetackert wurde.

SAMIRA EL OUASSIL: Mir fällt gerade noch ein wichtiger Punkt ein.

**Bitte.**

SAMIRA EL OUASSIL: Wir sind total begeistert von den Studierenden, weil sie unfassbar engagiert, versiert und leidenschaftlich diskutieren und uns auch auf Wahrnehmungslücken hinweisen und diese mit uns diskutieren. Und das macht das Festival so reich, dass man eben diese Perspektiven dank der Studierenden noch mal wahrnimmt.

ANNA BRÜGGEMANN: Ich stimme Samira absolut zu.

**Ich auch! Letzte Frage: Was steht für Sie als nächstes an, an welchen Projekten arbeiten Sie?**

SAMIRA EL OUASSIL: Ich arbeite nach „Erzählende Affen“ am nächsten Sachbuch und darf bei einem sehr intensiven Drehbuch mitschreiben. 

ANNA BRÜGGEMANN: Ich kenne diesen Zustand, in dem man noch nicht über zukünftige Projekte reden kann. Ich habe das Glück, dass ich von meinem zweiten Roman, „Wenn nachts die Kampfhunde spazieren gehen“, erzählen kann, weil er gerade rausgekommen ist, und ich bin immer noch aufgeregt und sehr, sehr froh, dass er in der Welt ist. Und ich habe gerade mit Ester Amrami einen Film fürs ZDF gedreht, „Fang mich doch“. Das war eine große Freude, weil - Stichwort ausgetretene Wege - ich mich am Set so frei gefühlt habe wie selten zuvor. Sie hat für alle Gewerke einen Zustand der kreativen Freiheit erschaffen. Die Hauptrolle hat Jan Krauter, und er spielt einen Hochstapler.

Das Interview führte Frank Heine

„Die vielleicht sinnvollste Form von Kritik“ - Eindrücke der TeleVisionale-Jury