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Morgen startet bei Netflix die Miniserie "Inventing Anna" von Erfolgsproduzentin [Shonda Rhimes](/person/shonda-rhimes), in der ["Ozark"](/tvshow/ozark)-Star [Julia Garner](/person/julia-garner) als berühmt-berüchtigte Hochstaplerin Anna Sorokin zu sehen, die vor einem Jahrzehnt die New Yorker High Society narrte. Hier unsere Besprechung.


Kann man schon von einem Trend sprechen? In kurzer Abfolge werden in den kommenden Monaten auf verschiedenen Streamingdiensten neue Highend-Serienformate gestartet, die allesamt von Aufstieg und Fall schillernder Figuren aus den Welten des High-Tech und IT, der Reichen und Schönen erzählen, glitzernde wahre Geschichten, die in akribisch recherchierten Enthüllungsartikeln führender Journalismus-Publikationen hohe Wellen schlugen. Im März startet bei Apple TV+ "WeCrashed" mit [Jared Leto](/person/jared-leto) über den WeWork-Erfinder Adam Neumann; Showtime lässt "Super Pumped" mit [Joseph Gordon-Levitt](/person/joseph-gordon-levitt) über den Uber-Visionär Travis Kalanick vom Stapel rollen; Hulu hat schon Anfang März "The Dropout" mit [Amanda Seyfried](/person/amanda-seyfried) über die Theranos-Gründerin Elizabeth Holmes im Programm (in Deutschland im April bei Disney+) - allesamt Ikarus-Geschichten von Träumern, die hoch fliegen, der Sonne zu nahe kommen und dann abstürzen: Wealth-Porn für die Generation Instagram, als würde man ["The Social Network"](/movie/the-social-network) oder ["The Wolf of Wall Street"](/movie/the-wolf-of-wall-street) auf Serienlänge (über-)dehnen.


Die Nase vorn hat indes "Inventing Anna", produziert von Shonda Rhimes' Erfolgsfirma Shondaland im Rahmen ihres Outputdeals mit Netflix, der bereits den weltweiten Serienerfolg ["Bridgerton"](/tvshow/bridgerton) hervorgebracht hat. Basierend auf dem aufwändig recherchierten Artikel "How Anna Tricked New York" von Jessica Pressler im New York Magazine, wird die Geschichte der in Russland geborenen Deutschen Anna Sorokin erzählt, die sich bis zu ihrer Festnahme im Oktober 2017 als Hochstaplerin unter dem erfundenen Namen Anna Delvey fast fünf Jahre an der High-Society von New York City gütlich tat, auf den Kosten anderer in Saus und Braus lebte und sich immer nur vom Teuersten und Feinsten nahm. Ein bisschen fühlt man sich erinnert an ["The Bling Ring"](/movie/the-bling-ring) oder "Zu schön, um wahr zu sein - Die JT LeRoy Story", mehr noch aber ist diese Cautionary Tale, diese Warngeschichte, die sich mit Anna an unermesslichem Reichtum ergötzt, ihr dann aber doch mit strafendem Blick auf die Finger haut, eine moderne Variante von ["Der talentierte Mr. Ripley"](/movie/der-talentierte-mr-ripley). Wie Patricia Highsmiths legendärer Antiheld geht es auch hier um einen Meister der Verwandlung: Mühelos schlüpft Anna in neue Identitäten und Verkleidungen und verschleiert ihre wahre Herkunft meisterhaft, während sie ihre Opfer ausnimmt.


Klug hat man [David Frankel](/person/david-frankel) die Inszenierung der ersten beiden Folgen übertragen: Auch in seinem Kinohit ["Der Teufel trägt Prada"](/movie/der-teufel-traegt-prada) ging es um eine junge Frau, die neu ist in der Welt endlosen Reichtums und besinnungslosen Prunks, nur dass es damals eine Unschuld vom Lande war, der man als Publikum gleichermaßen staunend durch das Schlaraffenland folgte, während Anna eher einem Raubtier gleicht, immer auf den eigenen Vorteil bedacht. Julia Garner, gefeiert für ihre Darstellung als White-Trash-Girl Ruth Langmore in "Ozark", ist die Idealbesetzung für die Rolle: Ihre Coolness und eisige Kälte, hinter denen nur in wenigen Augenblicken Unsicherheit hervorblitzt, bricht sich auf faszinierende Weise an der von [Anna Chlumsky](/person/anna-chlumsky) aus ["Veep"](/tvshow/veep-die-vizepraesidentin) gespielten Journalistin Vivian, eine schwangere, unscheinbare Goody-Two-Shoes, die eine Chance sieht, sich mit der Enthüllung der Geschichte von Anna Sorokin, entgegen der Befehle ihrer vorgesetzten Redakteure, einen Namen zu machen. Sie ist die Identifikationsfigur, die nicht nur Anna im Gefängnis aufsucht und sich wiederholt die Zähne an ihr ausbeißt, gleichzeitig aber auch deren Weggefährten ausfindig macht und befragt und auf diese Weise mit ausholenden Rückblenden die Puzzlestücke nach und nach zusammenfügt. Alles sieht edel aus, aber vor allem gefallen die bissigen, witzigen Drehbücher, die sich förmlich berauschen an den schier zahllosen verrückten Geschichten, wie Anna Sorokin die Elite narrte und die Menschen um sich herum nach Lust und Laune gängelte. Die Latte liegt jedenfalls hoch: Die eingangs erwähnten kommenden Serien werden sich ganz schön recken müssen, wenn sie an den Unterhaltungswert von "Inventing Anna" herankommen wollen.


Thomas Schultze

"Inventing Anna" auf Netflix