Blickpunkt:Film

Kino

Blickpunkt:Film: Was bedeutet es für Sie, am Wettbewerb in [Venedig](/company/mostra-internazionale-darte-cinematografica) teilzunehmen?

Winfried Bonengel: Natürlich finde ich es wunderbar, am Lido dabei zu sein. Aber ich war mit meinem Dokumentarfilm "Beruf: Neonazi" auf so vielen Festivals und habe so viel durchgestanden, das mir nichts Schlimmeres mehr passieren, ich nicht mehr Stress erleben kann.

BF: Erwarten Sie Kontroversen?

WB: Auf jeden Fall Diskussionen, und das ist gut so. Der Zweck ist erfüllt, wenn der Zuschauer emotional nachvollziehen kann, wie aus normalen jungen Leuten Nazis werden können, denn da setzt meistens die Ratio aus. Ich habe den fertigen Film einigen Jugendlichen gezeigt, und die haben genau verstanden, um was es geht. Ich freue mich über die Wettbewerbs-Teilnahme, aber mehr würde ich mich freuen über große Publikumsresonanz.

BF: Woher kommt Ihre Affinität zum Thema Neonazis?

WB: Ich bin nicht darauf fixiert. Schon vor zehn Jahren wollte ich diesen Spielfilm drehen. Ich kam gerade von der Filmhochschule und niemand kannte mich in Deutschland, also bestand keine Chance. In der Zwischenzeit habe ich Bücher zu anderen Themen geschrieben. Aber dieser Film ging mir nicht aus dem Kopf. Mich interessieren die Gegensätze von Sensibilität und Gewalt. Wahrscheinlich trägt jeder von uns ein grenzenloses Hasspotenzial in sich. Mich reizt dieser Punkt, wo man den Menschen brechen kann, wo er durchdreht. Eine Ursache von Gewalt liegt doch heute auch darin, dass viele Jugendliche das Gefühl haben, ignoriert zu werden. Sie könnten verschwinden, niemand würde es bemerken.

50 Prozent wahre Hintergründe

BF: Sie beziehen sich nur in wenigen Passagen auf den von Ihnen und Hasselbach geschriebenen Roman "Die Abrechnung".

WB: Weil ich eigentlich nur die Stimmung der achtziger Jahre in der DDR wiedergeben wollte. Ingo Hasselbach hat mir sehr viel aus dieser Zeit berichtet und war auch oft am Set. Personen und Geschichte sind fiktiv, ungefähr 50 Prozent entsprechen den wahren Hintergründen und Anekdoten.

BF: Wie entwickelte sich die Idee zu dem Projekt?

WB: Ich las über die Resozialisierung von Neonazis in Ostberlin und habe dann recherchiert. Bis zum Mauerfall hatte ich noch nie einen Neonazi gesehen. Hasselbach erzählte mir sein Leben und das seiner Freunde, von denen ich einige kennen lernte. Im Film spiegeln sich Bruchstücke von verschiedenen Charakteren wider. Ich wusste sofort, das ist ein Superstoff.

BF: Und die Realisierung?

WB: Sehr beschwerlich. Jahrelang habe ich vor mich hingearbeitet, irgendwann die 16. Drehbuchfassung geschrieben. Es gab interessierte Produzenten, sogar mal eine Förderung, aber nichts ging wirklich voran. Als ich kaum noch an das Projekt glaubte, traf ich Produzent [Laurens Straub](/person/laurens-straub), anschließend erfolgte die Zusage von Studio Canal relativ schnell. Ich versichere Ihnen, noch einmal warte ich nicht so lange.

BF: Haben Sie sich bewusst für unbekannte und junge Gesichter entschieden?

WB: Es geht um den Verlust von Unschuld, Freundschaft und Demütigungen, da wollte ich unverbrauchte Schauspieler. Es ist unglaubwürdig, wenn ein 35-Jähriger einen 18-Jährigen spielt. [Christian Blümel](/person/christian-bluemel) und [Aaron Hildebrand](/person/aaron-hildebrand) verkörpern exakt diese jugendliche Verletzbarkeit und Verführbarkeit.

BF: Die Brutalität mancher Szenen ist kaum erträglich.

WB: Ich zeige Gewalt nicht um der Gewalt willen. Sie ist teilweise krasser, als ich sie darstelle. Ich kenne schreckliche Schilderungen wie jemand von zehn Männern vergewaltigt wird, man Brandsätze in Wohnungen mit Babys werfen wollte oder ein Nazi einen anderen wegen 20 Mark mit einem Stein erschlug. Gewalt ist Bestandteil unseres Lebens, psychische finde ich oft viel schlimmer als körperliche.

"Ich zeige Gewalt nicht um der Gewalt willen"

BF: Hatten Sie mal Schwierigkeiten mit der rechten Szene? Ingo Hasselbach wurde nach seinem Ausstieg von seinen früheren "Kameraden" verfolgt.

WB: "Führer Ex" ist ein Spielfilm, eine Dokumentation ist gefährlicher, weil es um konkrete Personen geht. Aber bei "Beruf:Neonazi" war ich schon sehr vorsichtig und habe meine Telefonnummer und Adresse geheim gehalten. Ich lebte in Frankreich und war dadurch auch geschützter.

BF: Wenden Sie sich jetzt anderen Themen zu?

WB: Als Nächstes plane ich einen Film über Jugendliche von heute, die noch an etwas glauben und ganz furchtbar enttäuscht werden, aber nicht im Zusammenhang mit Neonazis oder Politik. Ich beschäftige mich auch noch mit anderen Stoffen, wie einem richtig schönen Liebesfilm. Wenn mir die Ideen ausgehen, realisiere ich Fremdstoffe. Damit habe ich keine Probleme.

Winfried Bonengel zu "Führer Ex"