Blickpunkt:Film

Kino

[Nikolaj Nikitin](/person/nikolaj-nikitin_e) leitet seit 2022 bei [Tallinn Black Nights ](/company/tallinn-black-nights-film-festival)die Reihe Critics' Picks. Wir sprachen mit ihm über die verbindende Linie und wahre Film-Delikatessen seiner diesjährigen Auswahl und den deutschen Schwerpunkt bei dem A-Festival.

**Welche Auswahlkriterien sind für Sie für Ihre Reihe Critics‘ Picks wichtig und wie unterscheidet sich die Auswahl von den Reihen der anderen A-Festivals?**

Qualität und künstlerische Vision – und diese in allen Bereichen und Departments. Da ich die ersten zwei Jahrzehnte meiner Karriere als Filmkritiker gearbeitet habe, schätze ich Kino, das exquisit gemacht ist, aber auch Grenzen überschreitet, sehr. Dank der Unterstützung unserer wunderbaren Festivalleiterin Tiina Lokk habe ich völlige künstlerische Freiheit und darf kuratorisch die ganze Welt abdecken. In diesem Jahr präsentieren wir die TOP 10 des Weltkinos. Ich bin stolz darauf, dass wir zudem eine nationale Koproduktion, "[Quiet Life](/movie/quiet-life)" (koproduziert von [Riina Sildos](/person/riina-sildos), Jurymitglied des ersten CP-Jahrganges), als Out of Competition Beitrag zeigen können, die jüngst in Venedig lief. Bei allen Titeln des Critics‘ Picks Wettbewerbs handelt es sich um Weltpremieren und alle werden von den Filmemachern persönlich vorgestellt.
Da wir unseren Debüt-Wettbewerb haben, habe ich beschlossen, uns nicht auf Erstlings-Filmemacher oder zweite Regiearbeiten zu beschränken, wie die Kollegen in Cannes, Venedig oder Locarno. Außerdem wollte ich nicht „nur“ sieben lange Arbeiten haben, da ich so viel wie möglich die Welt abdecken wollte, in der wir bekanntlich fast 200 Länder haben. Der Hauptunterschied ist sicherlich der, dass ich nicht nur anspruchsvolle Arthouse-Filme präsentieren möchte, sondern sogenannte Cross-Over-Filme, die ein breites Publikum erreichen können. 

**Was zeichnet die diesjährige Filmauswahl aus? Welche Themen, Genres und Perspektiven stechen hervor?**

Im bereits dritten Jahr der Sektion bin ich sehr stolz darauf, ein sehr „rundes“ Programm mit einer klaren roten Linie zu haben, die die Filme miteinander verbindet.
Festzuhalten ist, dass auf die sehr schwierigen Zeiten, in denen wir leben, Filmemacher:innen unter anderem mit (schwarzem) Humor reagieren – wie schon vor 300 Jahren Voltaire mit seinem „Candide“. So freue ich mich sehr, als Eröffnungs- und Abschlussfilm zwei schwarze Komödien zu präsentieren, die sich mit dem Thema beschäftigen, über das wir eigentlich niemals lachen sollten: den Tod. Aber diese beiden brillanten Filme – "Dreaming of Lions" aus Portugal und "The Brothers Kitaura" aus Japan – sind so wunderbar und witzig, dass das Publikum sie sicherlich goutieren wird. 
Seit Corona – gefolgt von Russlands Angriffs-Krieg gegen die Ukraine – sehen wir, dass das Publikum mehr an Genrefilmen interessiert ist, was wir aus der Filmgeschichte schon kennen. Für mich ist eine lustige Komödie das am schwierigsten zu inszenierende und erfolgreich umzusetzende Genre. Wir wissen, dass Hollywood u.a. auf den Schultern von Meistern des Genres wie [Lubitsch](/person/ernst-lubitsch) und [Wilder](/person/billy-wilder) aufgebaut wurde. Neben der Komödie haben wir mit "Moor" knallharte Action à la "Rambo" aus Kasachstan und den psychologische Thriller "The Body" aus Italien. Schon bei diesen vier Filmen wird die große Länder-Vielfalt deutlich.

**Gibt es bei der diesjährigen Auswahl etwas Überraschendes für einen erfahrenen Kurator?**

Ich bin sehr gespannt auf die Reaktionen auf den ersten Film aus Bhutan, den wir zeigen. "I, the Song" der Regisseurin Dechen Roder, u.a. finanziert vom Berlinale World Cinema Fund. Jahrzehntelang war Bhutan nicht auf der cineastischen Landkarte, aber dieser Film wird das sicherlich ändern, wie vor einigen Jahren, als 2022 "Lunana: A Yak in the Classroom" für den Oscar nominiert wurde und in diesem Jahr "The Monk and the Gun" vom selben Regisseur [Pawo Choyning Dorji ](/person/pawo-choyning-dorji)es auf die Shortlist schaffte. Neben Bhutan hat mich das Debüt "Fishgirl" aus Ecuador überrascht, sicherlich der surrealistischste Film, während die chinesisch-kanadische Produktion "Hani" – leider – sowohl realistisch als auch künstlerisch absolut sehenswert ist. Ebenso wie der der leidenschaftliche brasilianische Beitrag "Streets of Gloria".
Ich freue mich sehr zu sehen, wie stark das Kino unsere baltischen Nachbarn im Moment ist. Nach zwei wunderbaren Filmen, die in Locarno erfolgreich waren (den dortigen Gewinner "Toxic" zeigen wir in unserem Jugendfestival JUST), präsentieren wir "[Johatsu](/movie/johatsu-die-vermissten)" von [Lina Lužytė](/person/lina-luzyte) und [Nerijus Milerius ](/person/nerijus-milerius)aus Litauen. Apropos Regie-Duo: Wir zeigen "Nobody Likes Me" von [Petr Kazda](/person/petr-kazda) und [Tomáš Weinreb ](/person/tomas-weinreb)(die 2016 mit „Já, Olga Hepnarová“ das Panorama eröffnet haben) aus der Tschechischen Republik – beide Filme sind sich sehr ähnlich und behandeln das allgegenwärtig vorhandene zeitgenössische Gefühl von Einsamkeit, Verschwinden und fehlender Zugehörigkeit.

**Richten sich die Arthouse-Filme, die in den Critics' Picks angeboten werden, nur an anspruchsvolle Filmliebhaber?**

Mit den CP (Critics' Picks) möchte ich die Rezeption des sogenannten Arthouse-Kinos gezielt verändern, das oft als langweilig, s/w, schwierig und depressiv wahrgenommen wird. Die Auswahl war und ist dieses Jahr sehr bunt, vielfältig, surreal, actionreich und extrem lustig. Aus der Hollywood-Perspektive betrachtet sind es immer noch alle Arthouse-Filme, da sie nicht englischsprachig sind und keine Studios hinter ihnen stehen. Statt Arthouse bezeichne ich die ausgewählten Filme lieber als Independent Kino, denn sie erinnern mich an die guten alten Zeiten der US-Indies meiner Kindheit in den 80er und 90er Jahren. Ich bin sicher, dass die Filmemacher, die wir in CP vorstellen, in naher Zukunft einem internationalen Kinopublikum bekannt sein werden. Wir bieten Ihnen einen sicheren Hafen, um Ihre Arbeit erstmals der Öffentlichkeit zu präsentieren und international entdeckt zu werden. 

**Können Sie uns etwas über den deutschen Schwerpunkt erzählen?**

Mit diesem umfangreichen Schwerpunktprogramm feiern wir das 70-jährige Jubiläum von German Films und das 25-jährige Jubiläum des Goethe-Instituts in Estland.
Wir haben uns dazu entschieden, da gerade das deutsche Kino sehr spannend und divers ist, aber leider immer noch viel zu wenig bekannt im Ausland, wobei wir in Tallinn regelmäßig – und überaus erfolgreich – deutsche Filme zeigen. So hat u.a. "[Lieber Thomas](/movie/lieber-thomas)" 2021 den Hauptpreis gewonnen und [Aylin Tezel](/person/aylin-tezel) mit ihrem Debüt "Falling Into Place" letztes Jahr FIPRESCI. Wir sind sehr glücklich mit [David Dietls](/person/david-dietl) wunderbarer Feelgood Komödie "[Feste & Freunde](/movie/feste-und-freunde)" zu eröffnen. In unserem Debüt-Wettbewerb läuft der wichtige "[No Dogs Allowed](/movie/no-dogs-allowed)" von [Steve Bache](/person/steve-bache) als Weltpremiere und in dem Rebels-Wettbewerb die herrlich schräge Komödie "[Die geschützten Männer](/movie/die-geschuetzten-maenner)" von [Irene von Alberti](/person/irene-von-alberti) und "Yellow" von [Oliver Hirschbiegel](/person/oliver-hirschbiegel) und [Albert Oehlen](/person/albert-oehlen) mit [Ben Becker](/person/ben-becker). Zudem haben wir die Highlights der aktuellen Festival-Saison wie "[Sterben](/movie/sterben)", "[In Liebe, Eure Hilde](/movie/in-liebe-eure-hilde)", "[September 5 - The Day, Terror Went Live](/movie/september-5)"  und "[Riefenstahl](/movie/riefenstahl-at)". Als Jurypräsident dürfen wir [Christoph Hochhäusler](/person/christoph-hochhaeusler) begrüßen und zeigen seinen starken Locarno-Genre-Beitrag "[La Mort Viendra - Der Tod wird kommen](/movie/la-mort-viendra)".

**Was bedeutet Ihnen die Arbeit in Tallinn?**

Wir verwenden seit einiger Zeit als Berufsbezeichnung das Wort Kurator, das vom Lateinischen „curata“ kommt, was Heilen bedeutet. Ich sage nicht, dass ich Dr. Film bin und das Publikum vom Streamer/TV-Geschmack heilen will, sondern ich präsentiere diverse Stimmen des Weltkinos, die es wert sind, entdeckt zu werden, da sie politisch und persönlich über die Welt, in der wir leben, reflektieren und unser Leben auf vielen Ebenen sehr bereichern. Vergleichen wir es mit einem Chefkoch in einem guten Restaurant. Man muss vielleicht länger auf einen Tisch warten und es wird etwas kostspieliger, aber das kulinarische und sinnliche Erlebnis werden unsere Besucher nie vergessen! Es sind halt nicht die Burger einer Fast-Food-Kette, sondern wahre Delikatessen.


Nikolaj Nikitin: „Kuratorisch die ganze Welt entdecken“