Blickpunkt:Film

Kino

Blickpunkt:Film: Auf welchen dramaturgischen Ebenen spielt Ihr Film?


Niki Stein: Die Hauptlinie beschreibt die Erfahrungen des einfachen Krankenhausarztes Brügger und seines Umfeldes. Im Kampf gegen die Pest findet er einen antithetischen Verbündeten in seinem Konkurrenten Lindenthal, der anfangs beinahe faschistoide Züge trägt. Eine weitere Ebene sind Politik und Gesellschaft. Die Politiker reagieren zunächst mit Verschweigen, später mit Hilflosigkeit. Wir werfen die Frage auf, wie eine Gesellschaft in einer solchen Katastrophe zu verwalten ist, wie die Würde der Betroffenen zu wahren ist, wo die Grenzen des Rechtsstaates liegen. Im zweiten Teil bringen wir die Zuschauer in dieses Ghetto - wobei ich diesen Begriff sehr bewusst nutze -, denn wir zeigen die Stadt nur aus dieser Innensicht. Ein weiteres sehr wesentliches Element ist das Motiv der Trennung und der Vereinsamung: Fast alle Figuren werden getrennt - durch die Abriegelung des Quarantänebereichs, durch den Tod, durch Flucht. Aber sie finden darin auch Chancen: neue Begegnungen, das Warten aufeinander. Für mich ist das Thema Pest ein Vehikel, um die Trennungen von Menschen zu zeigen.


BF: Sie stellen ein Kaleidoskop an Figuren vor. Welche Funktionen haben sie?


NS: Die schwierigste Figur war die Wissenschaftlerin Verena, die die Epidemie mit verursacht hat. Sie stellt sich dieser Schuld und findet im Elend ihre Bestimmung. Aber mit dem Ende des Elends endet auch ihr Glück - sie muss zwangsläufig sterben. Der Mönch Tankred ist ein an seinem Gott verzweifelnder prophetischer Sozialrevolutionär. Hinter seinem Disput mit einem Priester der Amtskirche steht der mythologische Konflikt um den strafenden und den tröstenden Gott - in Zeiten der Not besinnen sich die Menschen ja wieder auf den Glauben. Der Feinkosthändler und der Kanalarbeiter symbolisieren die ganz normalen Leute in ihrer Not und der Angst um ihre Kinder.


BF: Warum lassen Sie beinahe alle Identifikationsfiguren und selbst die Kinder sterben?


NS: Der Zuschauer wird merken, dass wir hier nicht über einen Schnupfen reden, sondern über ein Massensterben, und das erfasst auch die Kinder. Der erste Teil ist ein Thriller, der Wettlauf gegen die Krankheit. Im zweiten, melodramatischen Teil des Films stehen die großen Gefühle im Zentrum, die Trauer und die Einsamkeit.


BF: Sie bedienen sich mittelalterlicher Pest-Mythen. Wo überall haben Sie recherchiert?


NS: Der zynische Radiosprecher Bocaccio etwa erinnert an die Totentanzmotive: Er weidet sich am Elend, sieht den Tod tanzen, kommt aber geläutert und gereinigt aus dem Zyklus heraus, indem er seine Menschenverachtung überwindet. Wenn der Kanalarbeiter und seine Frau sich mit einer Rose von ihrem toten Kind verabschieden, die sie in den Leichenkahn werfen, ist das einerseits eine Inspiration durch Albert Camus" Roman, andererseits eine Anspielung auf den griechischen Mythos der Totenfähre. Aber ich habe natürlich die Authentizität in der Gegenwart gesucht. Ich sprach mit Epidemiologen, mit Zivilschutzorganisationen und anderen Experten. In der Medizin herrscht tatsächlich eine große und nicht unbegründete Angst vor einer unbeherrschbaren Epidemie. Und es existieren vergleichbare Quarantäne-Pläne: Das Müngersdorfer Stadion wurde tatsächlich kurz vor den Dreharbeiten für eine ähnliche DRK-Übung genutzt.


BF: Waren Sie mit der Verschiebung des Sendetermins einverstanden?


NS: Angesichts der Anschläge mit Milzbrand-Erregern nach dem 11. September war die Verschiebung des geplanten Sendetermins im Herbst durch RTL das einzig Richtige.


BF: Wie gestaltete sich die Drehorganisation?


NS: Die Verwaltung in Köln war äußerst kooperativ, sie ermöglichte beispielsweise die Sperrung der Deutzer Brücke und den Dreh im Stadion. Aber die öffentliche Meinung war gegen uns, man behauptete in der Presse, wir verurteilten die Stadt zum Tode. Für einige Locations mussten wir nach Lüttich ausweichen, weil wir in Köln keine Originalmotive mit dem geforderten schäbigen Charakter fanden. Und dann gibt es prinzipiell keine Drehgenehmigungen im Kölner Dom. "Dom innen" drehten wir in einer belgischen Kirche, aber das werden nur wenige Zuschauer merken.


Der schäbigen Bilder wegen nach Lüttich


BF: Welche Bedeutung hat der Film für Sie und was sind Ihre nächsten Projekte?


NS: Der Film war für mich sehr wichtig. Ich habe mich eineinhalb Jahre mit ihm beschäftigt, und er beweist mir, dass wir auch in Deutschland in großen Visionen erzählen können. Was meine nächsten Projekte angeht: Für den [Hessischen Rundfunk](/company/hessischer-rundfunk-anstalt-des-oeffentlichen-rechts) habe ich die neue "Tatort"-Reihe mit [Andrea Sawatzki](/person/andrea-sawatzki) und [Jörg Schüttauf](/person/joerg-schuettauf) konzipiert. Sie beginnt mit einer Trilogie, die ich geschrieben habe und auch inszeniere. Der "Tatort" ist im deutschen Fernsehen nach wie vor die größte Chance, intelligent zu unterhalten, und wir gehen da neue Wege.

Niki Stein zu seinem "Pest"-Zweiteiler auf RTL