Blickpunkt:Film

Kino

Stacey Sher hat mit Filmen wie "Pulp Fiction" und "Django Unchained" die amerikanische Independent-Szene grundlegend verändert und mit den bedeutendsten Regisseuren aus mehreren Generationen zusammengearbeitet. Ihr Credo: Den Filmemachern ihre originäre Stimme lassen und tun, was man liebt.
 
**Sie haben in Ihrer Karriere viele Preise verliehen bekommen. Welcher hat Ihr Herz am meisten berührt?**
 
Ich fange mal so an. Als Kind mit einer wilden Begeisterung für Filme aufgewachsen und legte in der Zeit vor der Oscar-Verleihung mein bestes Benehmen an den Tag. Ich wuchs nämlich in Fort Lauderdale, Florida, auf. Die Übertragung endete immer lange nach meiner Schlafenszeit. Und wenn ich mich nicht anständig benommen habe, war die Strafe, dass ich die Oscar-Verleihung nicht sehen durfte. Für dieses Kind war es die Erfüllung aller Träume, nahe der Oscar-Verleihung zu sein, einfach dabei zu sein, ganz zu schweigen davon, nominiert zu sein oder am Ende, den Oscar zu produzieren. Das zu tun, was ich tun darf. Das Wunder, die Freude, die Unwahrscheinlichkeit und die Dankbarkeit dafür gehen mir niemals aus dem Kopf. Ich kann also nicht sagen, ob es wirklich besonders wegen diesem oder jenem Erlebnis war. Ich werde das erste Mal, als ich bei der Oscar-Verleihung war, niemals vergessen. Wir waren Executive Producer von „Pulp Fiction“. Ich weiß noch, wie ich auf dem roten Teppich die riesigen Oscars sah, und ich musste die Tränen zurückhalten, weil das für mich als Kind so wichtig gewesen war.

![](https://s3.eu-central-1.amazonaws.com/zone.busch.store.image/04cf314c-0df2-4bf5-9017-9bf99895028a.jpg) *Stacey Sher steht in Locarno Rede und Antwort Locarno Film Festival / Ti-Press*

**Sie sind immer wieder dankbar über den Weg, den Sie gehen durften und das fühlt sich auch 40 Jahre später noch genauso an?**

Das Gefühl ist immer noch das Gleiche. Als Steven Soderbergh mich fragte, ob ich mit ihm und Jesse Collins die Oscar-Verleihung produzieren wollte, war es mitten in der Pandemie wirklich herausfordernd, sich genau im Auge des Sturms zu befinden. Dennoch musste ich mich immer selbst zwicken und mich fragen: „Haben wir nicht ein wahnsinniges Glück, Geschichten zu erzählen zu dürfen, um unseren Lebensunterhalt zu verdienen?

**Andere bekommen einen solchen Preis bedeutend später. Macht Ihnen das auch ein bisschen Angst?**

Für mich ist es eine Auszeichnung in der Mitte meiner Karriere, ein Preis für das Produzieren als solches. Es ist ein Preis für Erreichtes, eine Anerkennung meiner bisherigen Karriere. Tatsächlich empfinde ich es als sehr ermutigend. Es sagt mir: „Auch wenn die Dinge schwer waren und schwer sind, mach weiter! Gib nicht auf!“  Darin steckt auch die Botschaft, dass sich die Zeit, weg von den Kindern, die langen Arbeitszeiten und die Enttäuschung über die Filme, die nicht gedreht wurden, gelohnt haben. Es überwiegt das Glück, Geschichten erzählen zu können, die hoffentlich die Menschen berühren und mit ihnen in Verbindung stehen. Was ich fühle, gleicht einer gewissen Demut. 

![](https://s3.eu-central-1.amazonaws.com/zone.busch.store.image/cf1acd97-718a-4573-b337-569e16c6d898.jpg)*Als Stacey Sher Quentin Tarrantinos Entwurf zu "Resevoir Dogs" las, wusste sie, dass sie eine neue Stimme des Films gefunden hatte IMAGO / United Archives*

**Sie sind eine der wenigen Produzent:innen, die die Independent-Szene seit den 90ern entscheidend geprägt haben. Wenn Sie die Filme, wie „Pulp Fiction“, „Django Unchained“, „Gattaca“ und „Erin Brockovich“ beschreiben sollten, denen Sie zum Erfolg verholfen haben, haben Sie etwas gemeinsam?**

Das einzige Zusammenfassende, was ich sagen könnte, wäre: Ich habe immer das getan, was ich liebte und die Projekte verfolgt, in die ich mich verliebt habe. Es ging mir um die Stimme der Filmemacher, deren Arbeit mich fasziniert hat. Ich habe versucht, ihre Vision zu unterstützen und ihre Geschichten zu erzählen. Ein Teil der Arbeit besteht darin, den Film vernünftig zu realisieren und zu vermarkten. Wenn er auf die große Leinwand kommt, entscheidet sich, ob es ihm gelingt, eine Verbindung zu den Menschen aufzubauen. Manchmal erfasst das Publikum, worum es dem Filmemacher ging, manchmal dauert das sehr lange. Ich könnte mich gar nicht für einen Favoriten unter meinen Projekten entscheiden. Produzieren war und ist für mich ein großes Abenteuer und eine riesige Herausforderung. Ich habe mich nie zu den Filmen hingezogen gefühlt, die besonders einfach waren, auch nicht zu der Zeit, als das Kino noch anders war. Und so ist es wirklich eine große Ehre und ein Privileg, sich Zeit zu nehmen, zurückzublicken und nicht nur nach vorn zu schauen. Ich kann sagen, bis hierhin war es ein heißer Ritt. 

![](https://s3.eu-central-1.amazonaws.com/zone.busch.store.image/24860959-10c4-4cd3-866c-e53076611793.jpg)*"Erin Brockovich" begründete eine lebenslange Freundschaft zwischen Steven Soderbergh und Stacey Sher*


**Man kann Ihre Karriere wirklich als heißen Ritt bezeichnen und er begann mit Ihrem Vater als Schlüsselfigur, stimmt das?**

Ja, mein Vater war ein fanatischer Filmliebhaber und das hat mich geprägt. Er liebte die Filme der 30er, 40er und 50er, Stummfilme, Charlie Chaplin, Buster Keaton und die Marx Brothers, genau wie Coppola und Scorsese, alte Musicals und Charakterdarsteller, wie Edward G. Robinson und Barbara Stanwyck. Das bringt eine Erinnerung zurück. Wir sahen „Meet John Doe“. Da setzte in Fort Lauderdale ein großer Sturm ein. Das Kabel ging nicht mehr. Treppauf und treppab laufend, fanden wir den einzigen Schwarzweiß-Fernseher weit und breit, um das Ende des Films zu sehen. Das war unsere Version des Million-Dollar-Movies. Das war unsere Gemeinsamkeit. 

**Wie war es für Sie als Frau, in einer von Männern dominierten Branche zu arbeiten, positiv und kraftvoll zu sein und im Team für das gemeinsame Filmprojekt zu arbeiten?**

Den jungen Frauen von heute möchte ich sagen, dass ich mich am Anfang oft entschuldigen musste oder die Leute glauben lassen musste, dass es ihre Idee war. Das ist heute nicht mehr so. Du hast einen Platz.  Du hast eine Stimme. Als ich anfing, war das der einzige Job, den ich mir vorstellen konnte. Als ich erfuhr, dass es den Beruf der Produzentin gibt, fragten mich einige Leute in meiner Familie: "Was macht eine Produzentin? Und es gibt so viele Antworten darauf. Aber ich glaube, dass es letztendlich die Liebe zum Filmemachen und die Liebe zum Geschichtenerzählen ist, die uns alle antreibt. Jeder hat eine Geschichte zu erzählen und es gibt nichts Besseres. 

**Ein weiterer bedeutender Meilenstein war es, mit Jersey Films und Danny DeVito zusammenzuarbeiten. Wie kam es dazu?**

Das war nicht besonders romantisch. Ein Headhunter rief mich an, um ein Treffen zu vereinbaren. Und es war ein perfektes Match. Ich fing an, als Senior Vice President für Danny DeVito, Michael Shamberg und Jersey Films zu arbeiten. Nach „Pulp Fiction“ machten sie mich zu ihrem Partner und wir arbeiteten 12 Jahre zusammen, gefolgt von zehn weiteren Jahren mit Michael Shamberg. 

**Mit Quentin Tarantino haben Sie damals einen Picture Deal unterschrieben, aus dem dann nach dem ersten Projekt „Reservoir Dogs“ „Pulp Fiction“ entstand. Ist es also das Geheimnis, den Kreativen die Freiheit zu gewähren, zu entwickeln, was Sie möchten und ihre eigene Filmsprache zu entwickeln, und war das etwas, das Danny DeVito auch Ihnen gewährt hat?**

Ganz genau. Das war nicht nur bei mir und Tarantino so, sondern auch bei Michael Shamberg. Es war Dannys Unternehmensphilosophie, weil er ein großer Filmemacher war. Bevor Michael und Danny Partner wurden, war Michael schon zweimal für den Oscar nominiert worden. Er hatte „The Big Chill“ und „A Fish Called Wanda“ produziert. Es war eine Herangehensweise, die ihrer Zeit voraus war.  So viele Menschen haben das, was wir gemacht haben, begrüßt, es übernommen und sich zu eigen gemacht. Aber, und das ist wichtig, sie unterstützten die Filmemacher, fanden originäre Stimmen und erzählten Geschichten, an die wir alle glaubten. Aufgrund von Dannys Ansehen als Filmemacher und Schauspieler hatten wir einen kleinen Fonds, mit dem wir Wetten abschließen konnten. Und eine davon war „Erin Brockovich“, eine andere „Pulp Fiction“.

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##### "Er sagte, er würde lieber sein eigenes Ding machen, aber wenn sein erster Film nicht funktioniert, dann müsse er vielleicht eine Adaption annehmen."

*Stace Sher über den Beginn ihrer Zusammenarbeit mit Quentin Tarrantino*

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**Es ist immer wieder überraschend, wie aus dem Leben gegriffen die Geschichten zu großen Filmen entstehen. Stammt die Idee zu „Erin Brockovich“ tatsächlich von Michael Shambergs Frau?**

Ja, sie traf die richtige Erin Brockovich durch ihren Chiropraktiker. 

**Wie haben Sie Quentin Tarantino entdeckt? Was hat Sie an ihn glauben lassen?**

Das war so: Es gab eine Kolumne in „The Hollywood Reporter“ und „Variety“. Sie hieß „Filming in the US“ und „Filming outside the US“. Hauptsächlich diente sie dazu, dass Agenturen unter der Hand Crew-Mitglieder für Filme vermitteln konnten. Eine meiner Techniken als junge Entwicklungsleiterin war es, diese Liste zu durchforsten. Und wenn es eine erstklassige Besetzung gab, ich aber noch nie etwas von dem Autor oder dem Regisseur gehört hatte, dann habe ich mir das Drehbuch besorgt. So habe ich „Reservoir Dogs“ gelesen, und es hat mich einfach umgehauen. Und wissen Sie, Quentin war damals so schwer zu erreichen wie heute. Ich hatte einen Freund, mit dem ich immer noch sehr eng befreundet bin. Chris Brancato ist heute einer der großen TV-Showrunner.  Er war der Mitbewohner von Lawrence Bender. Eines Tages waren wir alle zusammen auf der Premiere eines Films. Wir waren eng befreundet mit der Autorin von „Thelma & Louise“ Callie Khouri. Wir unterhielten uns. Harvey Keitel hatte gerade seine Rolle in „Thelma & Louise“ beendet, aber noch nicht mit „Reservoir Dogs“ begonnen. Quentin war auf der gleichen Premiere und kam auf uns zu. So haben wir uns kennengelernt. Das war das erste Mal, dass wir versuchten, ihm eine Adaption anzubieten. 

**Hat das geklappt?**

Er sagte, er würde lieber sein eigenes Ding machen, aber wenn sein erster Film nicht funktioniert, dann müsse er vielleicht eine Adaption annehmen.  Vorziehen würde er es allerdings, Originalfilme zu schreiben. Und so schlossen wir einen Blind Deal für seinen zweiten Film ab, bevor er mit den Dreharbeiten zu seinem ersten Film begonnen hatte.

**Und das war „Pulp Fiction“?**

Der Pitch umfasste eigentlich drei Filme, die eigentlich ein Sequel über Los Angeles sein sollten.

**Also hatten Sie einen Rohdiamanten gefunden?**

Für mich war damals ganz klar, dass das schon ein geschliffener Diamant war. Schon als ich den ersten Entwurf von „Reservoir Dogs“ gelesen hatte, war klar, dass Quentin Tarantino eine wichtige Stimme des Independent Films und ein großer Filmemacher sein würde. 

**Sie haben auch noch mit vielen anderen großen Regisseuren gearbeitet. Die Zusammenarbeit mit Steven Soderbergh muss etwas ganz Besonderes für Sie gewesen sein. Sie haben sogar mal gesagt, die Arbeit mit ihm war eine Lebensentscheidung.  Warum?**

Er ist wirklich innovativ, gleichzeitig wirklich bedacht und außerdem jemand, der etwas zustande bringt und die Arbeit leistet. Ich hatte das Glück, mit einigen der größten Filmemacher sowohl meiner Generation als auch anderer Generationen zusammenzuarbeiten, wenn man Oliver Stone und Miloš Forman und Terry Gilliam dazuzählt, dann würde ich sagen, das ist es: Er ist supersmart. Er strebt immer nach dem Original und er ist ein großartiger Partner, um mit ihm zusammenzuarbeiten. 

![](https://s3.eu-central-1.amazonaws.com/zone.busch.store.image/af34ad20-9c94-4870-84e0-f5b26718dd84.jpg)*"Gattaca" entsprang ebenfalls der erfolgreichen Zusammenarbeit des Produzenten-Trios, mit Andrew Niccol als Regisseur. Der Film bescherte Jude Law den Durchbruch Scotia, Buena Vista* 

**Wäre das, was Sie in den 90er-Jahren gemacht haben, heute noch in der US-Independent-Szene noch möglich?**

Die US-Szene ist ständig in Bewegung. Aber auch hier endet eine Welle und eine andere beginnt. Schauen Sie sich an, was mit Neon und A24 passiert.

**Gibt es noch irgendwelche verborgenen Schätze auf Ihrer Bucket List, die Sie unbedingt umsetzen wollen?** 

(Lacht): Ja! Aber über die kann ich nicht sprechen!



Stacey Sher zum Raimondo Rezzonico Award:  „Bis hier hin war es ein heißer Ritt!“

Locarno77, Piazza Grande, Stacey Sher, Raimondo Rezzonico Award 2024, 08.08.2024