Blickpunkt:Film

Kino

Blickpunkt:Film: Erstmals haben Sie einen Film nicht nach eigenem Drehbuch inszeniert. Wie sind Sie auf den Stoff aufmerksam geworden?


István Szabó: Auf Empfehlung eines Cousins, der als Journalist in Wien arbeitet, sah ich das Theaterstück vor etwa fünf Jahren. Ich war sehr bewegt, weil ich mich von den moralischen Fragen, die das Stück aufwirft, angesprochen fühlte. Vieles davon betrifft auch uns ungarische Künstler, die nach dem Zweiten Weltkrieg unter der russischen Diktatur lebten und arbeiteten. Wir diskutierten damals die ganze Nacht darüber. Ein Jahr später erhielt ich einen Anruf von dem Produzenten [Yves Pasquier](/person/yves-pasquier), der mich auf eine Verfilmung von "Der Fall Furtwängler" ansprach. Ich sah darin die Möglichkeit, auch etwas über unsere persönlichen Erlebnisse zu erzählen, und sagte zu.


"Welchen Wert hat die europäische Kultur?"


BF: Das war also noch vor dem Dreh von "[Sunshine](/movie/sunshine-ein-hauch-von-sonnenschein)"?


IS: In der Tat, ich befand mich damals gerade mitten in den Vorbereitungen. Meine Voraussetzungen waren dann auch, dass die Verfilmung warten musste, bis "Sunshine" fertig war. Und ich musste die Möglichkeit haben, den Stoff zeitgemäßer zu machen. Wenn es einfach nur eine Geschichte aus der Historie gewesen wäre, dann hätte mich "Der Fall Furtwängler" nicht gereizt. Ronald Harwood, der Autor des Stücks, war offen für meine Vorschläge, und gemeinsam nahmen wir einige Änderungen vor. Die beiden jungen Menschen in der Geschichte, im Film gespielt von [Moritz Bleibtreu](/person/moritz-bleibtreu) und [Birgit Minichmayr](/person/birgit-minichmayr), sind beispielsweise anders als im Stück. Ich will, dass das junge Publikum durch sie Zugang zu einem Stoff findet, mit dem es sich sonst vielleicht nicht auseinander setzen würde. Natürlich ist der Blick der beiden auch ein anderer, als der der Generation vor ihnen. Sie sind weniger festgefahren, sind noch in der Lage, ihre Ansichten zu ändern, je mehr sie die Situation verstehen.


BF: Völlig neu ist die Figur des russischen Offiziers, der Furtwängler als Dirigent für Stalin gewinnen will.


IS: Er ist sehr wichtig für mich. Er stellt die Fragen, die ich gern gestellt hätte. Er ist Teil einer anderen Diktatur und sieht Furtwänglers Probleme natürlich aus anderer Sicht als der Amerikaner, der aus einer fremden, demokratischen Welt kommt und über Furtwängler richten soll. Er hat es einfach: Er kennt die Umstände nicht und reiht lediglich die Fakten auf. Aus seiner moralischen Warte ist Furtwängler natürlich schuldig. Für ihn gibt es nur Schwarz oder Weiß. In der Szene mit dem Amerikaner und dem Russen hat man die Gelegenheit, den Unterschied zwischen der amerikanischen und europäischen Kultur zu sehen. In Europa ist man stolz auf die griechische Demokratie, das römische Reich, das Mittelalter, Notre-Dame, aber man stand vor Auschwitz und tat nichts. Was sagt das über die griechische Demokratie, das römische Reich, das Mittelalter und Notre-Dame aus? Welchen Wert hat die Kultur, wenn das Einzige, was man retten will, Mozart und Wagner sind? Das ist die Frage, die Harvey Keitel als verständnisloser Außenstehender letztlich stellt.


BF: Sind Ihnen die Fragen wichtiger als die Antworten?


IS: Selbstverständlich. Es sind die Fragen, die ich mir stelle, wenn ich mein Gesicht am Morgen im Spiegel betrachte. Aber Antworten? Tut mir Leid, ich bin kein Grundschullehrer oder Universitätsprofessor. Ich habe keine Antworten. Meine Aufgabe ist es, Fragen zu stellen. Und natürlich soll man die Fragen mit nach Hause nehmen. Wenn sie einen entmutigen, wenn sie einem Kopfzerbrechen bereiten, dann weiß man doch, dass es noch jemanden gibt, dem es ebenso geht.


BF: Sie schicken den Zuschauer durch ein Wechselbad der Gefühle. In einem Moment ist man auf der Seite Keitels, dann wieder lehnt man ihn auf Grund seiner Methoden ab.


IS: Ich kann doch einen Schauspieler nicht einladen und ihm eine Figur offerieren, die arrogant, dumm, ohne Werte ist und auf der Seite des Teufels steht. Wie soll man so jemanden spielen? Die Aufgabe eines Schauspielers ist es, seine Figur zu verteidigen. Wenn ich zwei Schauspieler habe, die ihre Figuren mit aller Macht verteidigen und ich beiden helfe, dann habe ich die Energie, mit der sich ein Drama vorantreiben lässt. Wenn einer Recht hat und der andere nicht, wo ist dann das Drama?


"Schauspieler sollen ihre Figuren verteidigen"


BF: Fühlen Sie als Künstler eine Verwandtschaft mit Furtwängler?


IS: Unbedingt. Manchmal kann ich ihn sogar verstehen. Anders als er glaube ich allerdings nicht, dass Politik und Kunst nichts miteinander zu tun haben. Und selbst, wenn man diese Ansicht vertritt, dann hat das Leben dennoch etwas mit Politik zu tun. Ich sage: Wenn Kunst nichts mit Politik zu tun hat, dann hätte auch das Leben nichts mit Kunst zu tun. Wozu sollte es dann Kunst geben?


BF: War es für Sie wichtig, Stellan Skarsgard auch optisch Wilhelm Furtwängler anzunähern?


IS: Absolut nicht. Ich habe [Brandauer](/person/klaus-maria-brandauer) seinerzeit auch nie gebeten, so auszusehen wie Hendrik Höfgen oder Alfred Redl. Die Realität interessiert mich nicht. Als Filmemacher interessiert mich die Wahrheit.

István Szabó über "Der Fall Furtwängler"