Blickpunkt:Film

Kino

Den Eklat um antisemitische Bekundungen zum Abschluss der Berlinale nimmt [Lars Henrik Gass](/person/dr-lars-henrik-gass), Leiter der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen, zum Anlass, das Thema in einem exklusiven Gastbeitrag grundlegend zu hinterfragen.  

"Mit der Politisierung internationaler Kulturveranstaltungen wächst der Druck auf die Veranstalter. Gleichzeitig steht die Glaubwürdigkeit der Veranstaltungen selbst in Frage. 

Nachdem bereits die IDFA, das Dokumentarfilm-Festival in Amsterdam, [Angriffsziel](https://www.hollywoodreporter.com/movies/movie-news/israel-palestine-debate-amersterdam-documentary-festival-idfa-1235646670/) von pro-palästinensischen Aktivisten geworden war und generell im Lichte von teils sehr aggressiven Formen politisch motivierter Störungen auf Kulturveranstaltungen, traf die Festivalleitung der Berlinale Vorkehrungen, um Team, Gäste und Publikum vor verbaler und nonverbaler Gewalt zu schützen. 

Dies geschah einerseits durch einen [Verhaltenskodex](https://www.berlinale.de/de/antidiskrimierung.html), der sich in jede erdenkliche Richtung abzusichern versuchte, andererseits durch eine Deeskalations-Schulung für das Team im Vorfeld. Der Plan ist leider nicht ganz aufgegangen. Es kam auch auf der Berlinale zu israelbezogenem Antisemitismus.

Die Sache ist noch nicht vollends aufgearbeitet. Die CDU-Bundestagsfraktion hat mehr als 70 Fragen an Kulturstaatsministerin Claudia Roth gerichtet, die Aufklärung bringen sollen. Die [Anhörung im Kulturausschuss des Bundestags](https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2024/kw15-pa-kultur-vorfaelle-berlinale-995316) hat die erhoffte Aufklärung jedenfalls nicht erbracht. Nach solchen Vorkommnissen, die bereits auf der vergangenen documenta in Kassel ihr Vorspiel hatten, ist die Betroffenheit ebenso groß wie die allgemeine Regungslosigkeit vor den Veranstaltungen. 

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##### "Schutzpflicht ist öffentlich geförderten Kulturveranstaltungen de jure auferlegt."


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Angeblich trage das ZDF für die Vorfälle bei der Preisverleihung die Verantwortung. Dort verweist man auf die Zuständigkeit der Veranstalter. An die Leidtragenden der Diffamierungen wird dabei weniger gedacht – an die Opfer des Massakers vom 7. Oktober schon gar nicht. Bis heute wartet man vergeblich auf ein Zeichen der Anteilnahme für den entführten Berlinale-Preisträger [David Cunio](https://www.juedische-allgemeine.de/israel/david-cunios-schicksal-ist-der-berlinale-keine-silbe-wert/) oder andere israelische Künstler.
Eine Schutzpflicht der Verfassungsorgane gegenüber der Menschenwürde ergibt sich in diesem Land unmittelbar aus Artikel 1 des Grundgesetzes. Alles andere folgt oder mit anderen Worten: Schutzpflicht ist öffentlich geförderten Kulturveranstaltungen de jure auferlegt. Das hat die Berlinale umgesetzt. Darüber hinaus schützt Artikel 5 die Freiheit der Meinung und der Kunst. Daraus aber kann kein Recht auf Diffamierung abgeleitet werden.

##### Breite Protestwelle 

Der Berliner Kultursenators Joe Chialo versuchte, klare Bestimmungen gegen Antisemitismus im Kulturbereich einzuführen, woran künftig eine Förderung geknüpft werden sollte. Das brachte eine Protestwelle hervor und einen Aufruf, den über 6000 Personen gezeichnet haben. Zuvor hatten sie es nicht als Problem angesehen, sich auf sehr allgemeine Weise überall zu Diversität, gegen Rassismus oder zu allem anderen, das gerade verlangt war, zu bekennen. Nur das Bekenntnis gegen Antisemitismus wollten sie sich nicht abverlangen lassen, insbesondere nicht auf Grundlage der IHRA-Definition, obschon diese durch den Deutschen Bundestag 2017 anerkannt worden ist. Darin wird auch israelbezogener Antisemitismus verurteilt.

Ganz offenbar gehört es im Kulturbetrieb zum guten Ton, etwas gegen Israel zu haben, und das kann man nur so richtig mitteilen, wenn man dafür öffentliche Förderung erhält. Das ist Teil des kulturellen Codes, der Zugang und Erfolg im kulturellen Terrain sichern soll. Artikel 5 des Grundgesetzes garantiert aber nicht einen Zugang zu Fördermitteln – darüber entscheiden Rahmenbedingungen der Förderer – sondern die Freiheit der Kunstausübung. Der Staatsrechtler Christoph Möllers, der für die Kulturstaatsministerin die maßgebliche Rechtsmeinung vertritt, kommt in einem [Gutachten](https://www.deutschlandfunk.de/gutachten-zu-antisemitismusklauseln-in-der-kultur-102.html) kurz gesagt zur Auffassung, dass man in diesem Land so ziemlich alles sagen und zeigen darf. Hier sind Rechtsgüter abzuwägen. Ein Anrecht auf Förderung aber besteht sicherlich nicht.

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##### "Einige fragen sich, wie wir aus der Misere wieder herauskommen können. Ich fürchte, wir haben noch nicht einmal das Ausmaß der Misere erkannt."

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Wir haben also ein Problem im Kulturbereich. Und ein Problem in der Kulturpolitik, weil sie die Rahmenbedingungen der Förderung nicht benennen und durchsetzen kann oder will. Das ist Ausdruck mangelnden Bewusstseins für Gestalt und Entwicklung gesellschaftlicher Prozesse, ein Mangel an Kapazität, aber womöglich auch an Gestaltungswillen selbst. Offenbar glaubt man hier ernsthaft an Selbstregulierung der Branche. 

Aber um die ist es schlecht bestellt. Das European Media Art Festival (EMAF) in Osnabrück etwa hat sich einen sogenannten [Code of Ethics](http://www.emaf.de/code-of-ethics/) gegeben für die gerade abgeschlossene Ausgabe, der, so scheint es, vor allem das Recht auf Diffamierung anerkennt. „Unsere Community ist divers.“ Das heißt: „Unser Handeln als politische Wesen kann unterschiedliche Formen annehmen, ob laut und explizit, oder im Hintergrund und implizit. Wir respektieren die Entscheidung all jener, die sich in Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung dazu entschließen, ihre Zusammenarbeit mit deutschen Institutionen auszusetzen, um ihrer Forderung nach dem Schutz künstlerischer Freiheit und einem fokussierten Vorgehen gegen Antisemitismus und strukturellen Rassismus Nachdruck zu verleihen.“ 


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##### "Damit werden Boykott und Ressentiment, die Dialog unterbinden, ausdrücklich gebilligt, während man selbst vorgibt, „Ort der Kunst- und Meinungsfreiheit, der kritischen Debatte und Begegnung in gegenseitigem Respekt“ zu sein."


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Damit werden Boykott und Ressentiment, die Dialog unterbinden, ausdrücklich gebilligt, während man selbst vorgibt, „Ort der Kunst- und Meinungsfreiheit, der kritischen Debatte und Begegnung in gegenseitigem Respekt“ zu sein. Ein Vorgehen „gegen Antisemitismus und strukturellen Rassismus“ kann aber kaum „fokussiert“ sein, wenn man keinen Begriff von der Sache selbst hat. Pflichtschuldig wird noch nachgeschoben: „Wir schließen uns den dringenden Forderungen nach einem Waffenstillstand in Gaza an.“ Kein Wort zur Hamas, die der Grund dafür ist, warum dieser Krieg überhaupt geführt wird.

Das Kurzfilmfestival in Hamburg veröffentlichte eine nahezu [gleichlautende Erklärung](https://festival.shortfilm.com/de/news/statement-war-in-gaza) „Zum Umgang mit den Auswirkungen des Krieges in Gaza auf die hiesige Kulturszene“. Wem gegenseitiger Respekt wichtig ist, der sollte aber Boykottkampagnen, anonyme Diffamierungen sowie alle Formen verbaler oder nonverbaler Gewalt verurteilen. Will man also hier ernsthaft Gäste, Publikum und sogar Kollegen vor Übergriffen schützen? Mitarbeiter beider Festivals haben sich selbst schon Aufrufen gegen Festivals angeschlossen, auch die Leiterin des goEast Filmfestivals in Wiesbaden, das ebenso Mitglied der AG Filmfestival ist. Diese hatte sich auf Nachfrage im Herbst noch „für einen konstruktiven Dialog“ [ausgesprochen](https://www.artechock.de/film/text/artikel/2023/11_16_ag_filmfestival.html). Das „Statement“ findet sich aber aktuell nicht einmal auf der eigenen Website.

Unter dem Zwang zur Vereindeutigung, unter Konformitätsdruck tritt der ehemals universalistische Anspruch von Filmfestivals, der vor dem Hintergrund der Erfahrungen von Faschismus und Nationalsozialismus und zwei Weltkriegen entstanden war, gegenüber einem naiven Verständnis von Engagement zurück. Spaltungsprozesse gehen heute von der Kultur aus, die sie einmal verhindern sollte. Das aber ist nicht im Sinne einer Kulturförderung im öffentlichen Interesse.

Beim Stand der Dinge werden Richtlinien, die Rahmenbedingungen der Kulturförderung klar benennen und auch durchsetzen, mit jedem Tag dringlicher. Dazu gehört eine neue Aufmerksamkeit für Antisemitismus in all seinen Formen, die konkrete Auswirkungen haben sollte auf eine wirkungsvolle Ausgestaltung der Schutzpflichten gegenüber Gästen und Publikum. Ebenso sollte der Umgang mit Antisemitismus eine Rolle spielen bei der Zuteilung (und notfalls Rückforderung) von Fördermitteln sowie der Besetzung von Leitungspositionen und Jurys.

Einige fragen sich, wie wir aus der Misere wieder herauskommen können. Ich fürchte, wir haben noch nicht einmal das Ausmaß der Misere erkannt.“

*Lars Henrik Gass ist Leiter der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen und derzeit selbst wegen eines pro-israelischen Statements mit einer Kampagne konfrontiert. Das renommierte Festival findet vom 1. bis 6. Mai zum 70. Mal statt.*











Filmfestivals unter Konformitätsdruck