Blickpunkt:Film

Kino

Das [Deutsche-Filmakademie](/company/deutsche-filmakademie-ev)-Trio, die Geschäftsführerinnen [Anne Leppin](/person/anne-leppin) und [Maria Köpf](/person/maria-koepf) sowie Vorstandsvorsitzender [Benjamin Herrmann](/person/benjamin-herrmann), sprechen darüber, warum es an der Zeit war, das Wahlverfahren für den Deutschen Filmpreis zu reformieren.

**Über die ausgewählten Filme beim Nominierungsverfahren zum Deutschen Filmpreis wurde in der Branche schon immer gestritten. Zuletzt war die Nicht-Berücksichtigung von „Roter Himmel“ in der Vorauswahl ein Aufreger. Die AG-Kino-Gilde hat der Deutschen Filmakademie „Orientierungslosigkeit“ vorgeworfen, Petzold nannte die Akademie eine „Katastrophe“. Wie stehen Sie zu dieser Kritik?**

BENJAMIN HERRMANN: Kritik begleitet den Deutschen Filmpreis, seitdem es ihn gibt. Und das war auch schon so, bevor die Deutsche Filmakademie von der BKM mit der Vergabe der Filmpreise betraut wurde. Es gibt immer eine Gruppe von Leuten, die sich und ihre Arbeit aufgrund von Wahlentscheidungen nicht wahrgenommen fühlt und diese Entscheidungen ungerecht, unfair findet – das geht mir persönlich doch nicht anders. Manchmal zu Recht, manchmal zu Unrecht. Dass über den Deutschen Filmpreis so viel diskutiert wird, werte ich aber als Ausdruck seiner Bedeutung für die Branche. Sprechen, diskutieren über Filme war immer eines der Ziele der Akademie. Dennoch ist eine von Partikularinteressen geprägte Kritik wie bspw. von Seiten der AG Kino-Gilde oder einzelner Journalisten auch frustrierend und absurd. Letztlich haben wir das gleiche Ziel, nämlich die Wahrnehmung des deutschen Films zu vergrößern, den deutschen Film nach vorne zu bringen, ihn ins Rampenlicht zu rücken. Mit Blick auf den Filmpreis hat das dieses Jahr mit „Das Lehrerzimmer“ vorbildlich funktioniert, wovon gerade die Häuser der AG Kino profitiert haben. Man darf nicht vergessen, wie viel Unwahrheiten und Agenda hinter Kritik steckt. Eines der geäußerten Vorurteile, bestimmte Filme würden nicht ausgewählt werden, weil deren Kreative nicht Mitglied der Akademie sind, ist natürlich Quatsch, gerade in Hinblick auf das Nicht-Mitglied Christian Petzold: seitdem die Mitglieder der Deutsche Filmakademie über die Filmpreise entscheiden, haben Petzolds Films die zweitmeisten Nominierungs- und Preisgelder erhalten – gleich nach den Filmen von Andreas Dresen.

**Was hat Sie gerade jetzt dazu bewogen, tatsächlich eine Reform des Wahlverfahrens anzustreben?**

BENJAMIN HERRMANN: Im Vorstand diskutieren wir bereits seit Herbst 2022 über mögliche Reformen und haben unsere Mitglieder bei einer Mitgliederversammlung Anfang des Jahres dazu befragt, ob es andere Wege geben könnte, den Deutschen Filmpreis zu verleihen, als Alternative zum bisherigen dreistufigen Modell mit Vorauswahljury bzw. -kommission, die von den einzelnen Gewerken unserer Mitglieder gestellt wurden. Dieses dreistufige Modell wurde viele Jahre von unseren Mitgliedern gewünscht mit der Begründung, dass sie nicht alle der jährlich rund 120 angemeldeten Filme würden ansehen können. Dieser Aspekt, dass alle Filme gesichtet werden, war der Akademie und der BKM immer sehr wichtig und wurde über den Weg der Vorauswahlkommission gewährleistet. Wie immer bei Jurys hat es sich auch bei der Vorauswahlkommission ergeben, dass auf ihr herumgehackt wurde. Es gab Jahre mit sehr ausgewogenen Vorauswahlen ebenso wie Jahre, in denen das vielleicht weniger gut gelang. Wie Menschen nun mal so sind.

**Allen wird man es nie rechtmachen können.**

BENJAMIN HERRMANN: Die Vorauswahl hat jedoch einen Keil in die Akademie getrieben, weil sie Jahr für Jahr, wie in diesem Verfahren nicht anders möglich, einem großen Teil der Filmschaffenden eine Absage für das Rennen um den Deutschen Filmpreis erteilt hat. Das ist nach unserer Auffassung unakademisch und widerspricht dem, was wir von Anfang an angestrebt haben, nämlich eine Gemeinschaft zu bilden, keine Hierarchien zwischen Produzenten und Maskenbildnern oder zwischen wem auch immer zu schaffen, sondern gemeinsam zu agieren. Deshalb war uns die Vorauswahl schon länger ein Dorn im Auge. Den Anstoß für neue Überlegungen zu einem Wahlverfahren ohne Vorauswahl gab auch unsere gewachsene Mitgliederzahl, die heute bei stolzen 2200 liegt – eine völlig andere Ausgangsbasis als zu den Anfängen, als wir ein paar Hundert waren. Zudem sind die technischen Voraussetzungen mit einem Online-Screening-Tool, wie es andere Akademien auch praktizieren, längst gegeben. Das heißt, wir haben die Möglichkeit, dass die rund 120 Filme, die ins Nominierungsverfahren gehen, ohne großen Aufwand auch gesehen werden können.

**Aber wie stellt man mit der Abschaffung der Vorauswahl sicher, dass alle 120 Filme geguckt werden und man sich nicht nur auf die zehn großen konzentriert?**

BENJAMIN HERRMANN: Das war die entscheidende Frage. Natürlich müssen alle, auch die kleineren Filme, die für eine Nominierung angemeldet wurden, gesehen werden. Ob sie dann nominiert oder ausgezeichnet werden, ist wieder eine andere Frage. Um das sicherzustellen, haben wir uns an Wahlpraktiken für bestimmte Kategorien bei den Oscars oder BAFTAs orientiert. Will heißen: Jedes Akademiemitglied erhält eine zugeloste Liste an durchschnittlich zehn aktuellen Filmen, die mindestens gesehen werden müssen, um abstimmen zu dürfen. Das heißt natürlich nicht, dass ein Mitglied nur aus den zehn zugelosten Filmen wählen darf. Die zehn per Zufallsgenerator zugelosten Filme müssen aber mindestens gesehen werden, das ist Voraussetzung, um überhaupt nominieren zu dürfen. So wird jeder Film statistisch von mehr als 100 Mitgliedern gesehen und alle Filme bekommen die nötige Sichtbarkeit, um sich in den weiteren Stufen durchsetzen zu können. Die Aufgabe und Verantwortung der bisherigen Vorauswahlkommissionen, alle Filme zu sichten, wird mit dem neuen Verfahren auf alle Schultern verteilt und ist damit eine gemeinsame und ganzjährige Aufgabe aller Akademiemitglieder.

**Glauben Sie, dass sich die Nominiertenauswahl dadurch anders präsentiert?**

BENJAMIN HERRMANN: Wir sind überzeugt, dass sich da gar nicht einmal groß etwas verändern wird. Wir lassen uns aber gerne überraschen. Wichtig ist, dass alle Filme und alle Einzelleistungen die gleiche Chance haben und nicht vorab „aussortiert“ werden. Um den Mitgliedern mehr Zeit zu geben, die Filme zu sehen, starten wir künftig wesentlich früher in den Prozess. Durch den Wegfall der Vorauswahl steigt auch die Verantwortung. Wer keine Zeit hat, nicht mitmachen will, der wählt eben nicht. Das war vorher auch so. Es gibt keine Wahlpflicht. 

**Herrschte hinsichtlich der Etablierung des neuen Wahlverfahrens gleich Konsens bei den Mitgliedern? Wie lief der Findungsprozess ab?**

BENJAMIN HERRMANN: Die Offenheit, neu zu denken, war gegeben. Das jetzige Modell hatten wir allerdings nicht fix und fertig ausgearbeitet zur Hand. Es wurden diverse Varianten in den Raum gestellt. Es ist nur menschlich, dass es verschiedene Pros und Contras gab, weil jedes Mitglied ein künftiges Modell daraufhin abgeklopft hat, ob es für die Art Film, die sie oder er selbst für herausragend hält, mehr Sichtbarkeit bedeutet. Es wurden verschiedene Varianten durchgespielt, bis wir die Lösung gefunden haben. Das neue Wahlverfahren wurde von den Mitgliedern im April final verabschiedet und dann der BKM vorgelegt. Diese muss dem Prozess als Preisgeberin zustimmen. Die Diskussion um die diesjährige Vorauswahl kam dann obendrauf. Sie war aber, wie gesagt, nicht der Grund, warum die Akademie das Wahlverfahren neu denken wollte, unterstützte aber sicherlich die Dringlichkeit, etwas zu ändern. Eine überwältigende Mehrheit stimmte für das neue Modell.

ANNE LEPPIN: Uns war wichtig, den Prozess transparent zu gestalten, die Mitglieder mitzunehmen, um eine Akzeptanz zu erreichen. In der Geschäftsstelle haben wir natürlich auch seit Jahren gemerkt, was das dreistufige Modell mit der Akademie macht. Dieses jährliche Aussortieren von ca. 60 Filmteams bei 110, 120 eingereichten Filmen hinterlässt einen schalen Geschmack. Da geht es in erster Linie nicht darum, nicht nominiert werden zu können, sondern um einen Ausschluss aus dem Jahrgang. Man sieht dann 43 Filme in der Vorauswahl auf unserer Plattform und ist enttäuscht, wenn die eigene Arbeit, in die man mehrere Jahre investiert hat, den Kolleg:innen nicht mal zur Sichtung vorgelegt wird. Das ist die große Verletzung, die dann in Konsequenz auch zu Austritten aus der Akademie geführt hat. Egal, wie die Vorauswahlkommission zusammengesetzt war, sie konnte es nicht allen recht machen. Es sind ja, um bei aktuellen Beispielen zu bleiben, nicht nur ein Christian Petzold oder das Team von „Der vermessene Mensch“ enttäuscht und sauer, sondern die anderen 60 berechtigterweise genauso. Die Diskussionen dieses Jahr haben es vielen noch einmal deutlich gemacht, wie schwierig das Verfahren ist. Und wie Benjamin schon sagte: Unsere Mitgliederzahl ist mittlerweile auf 2200 angestiegen, wir haben fast so viele Mitglieder wie andere große Akademien auch, haben aber viel weniger Filme. Das war ein zusätzlicher Ansporn, das durch die Vorauswahl evozierte Problem zu beseitigen. Die Nominierungen, so glauben wir, werden ähnlich sein wie bei jedem anderen Verfahren auch. Nur der Weg dahin ist viel gemeinschaftlicher. Wir erhoffen uns ein anderes Mindset, dass man neugieriger auf die angemeldeten Filme guckt.

MARIA KÖPF: Das Ganze wollen wir begleiten, indem wir noch intensiver über die aktuellen Filmstarts sprechen und die Mitglieder dazu animieren, sich die deutschen Kinofilme gleich im Kino anzuschauen und nicht erst dann, wenn die Nominierungsphase beginnt. Wir wünschen uns, dass die Filme übers ganze Jahr hinweg beobachtet und wahrgenommen werden. Diesen Wunsch stützen wir mit einem kontinuierlichen Informationsfluss, der wiederum auch der Akademie einen Schub nach vorne gibt.

BENJAMIN HERRMANN: Eines muss allen klar sein: Auch mit dem neu implementierten Wahlverfahren wird es Frustrationen geben, wenn dieser oder jener Film nicht nominiert wird. Aber nun stehen alle eingereichten Filme zur Wahl und nicht nur eine bereits beschnittene Auswahl.

ANNE LEPPIN: Wir ändern das Verfahren ja nicht, weil wir mit den Nominierten oder den Preisträger:innen unzufrieden wären. Das waren in unseren Augen schon immer die richtigen. Aber es gibt jetzt den ersten Schnitt nicht mehr, wo jemand nicht dabei sein kann. Bis zur Nominierung sind alle 110, 120 Filme im Rennen. Wenn ein Film wie „Roter Himmel“ unter dem neuen Konzept nicht als „Bester Spielfilm“ nominiert werden würde, wäre es eine ganz andere Kritik, weil dafür alle 2200 Mitglieder verantwortlich wären bzw. diejenigen, die sich von diesen 2200 an der Nominierungswahl beteiligen. 

**Es gibt auch eine Änderung, was die Nominierung für den Spiel- bzw. Kinderfilm betrifft? Unter dem alten Modell durften nur die Sparten Regie, Drehbuch und Produktion abstimmen…**

ANNE LEPPIN: Richtig. Mit dem neuen Wahlverfahren sind die Mitglieder aller Gewerke bereits zur Nominierungsphase in den Kategorien „Bester Spielfilm“ und „Bester Kinderfilm“ abstimmungsberechtigt – und nicht erst wie bisher bei der finalen Wahl der Preisträger:innen. Bei den anderen Preiskategorien ist es so, dass die Mitglieder weiterhin entsprechend ihres Gewerkes abstimmen. Dass künftig alle Gewerke über die Nominierung des besten Films entscheiden, bringt auch eine andere Motivation mit. Man erhält eine größere Verantwortung und kann mit noch mehr Lust in den Wahlprozess einsteigen, wenn man weiß, dass man auch bei den besten Filmen mitentscheiden darf. Wir haben in der Regel eine allgemeine Wahlbeteiligung von deutlich über 50 Prozent und glauben, dass sie im neuen Verfahren nochmals steigen wird, weil nun eine größere Aufgabe auf die Mitglieder wartet. Die Prämisse, dass jeder Film künftig von mindestens 100 Mitgliedern gesichtet wird, geht konservativ von einer Wahlbeteiligung von 50% aus. Wir werden seit 2011 von dem renommierten Wahlforscher Prof. Dr. Joachim Behnke begleitet, mit dem wir dieses Verfahren entwickelt haben und der unseren Mitgliedern bei den Mitgliederversammlungen Rede und Antwort stand. Es steht alles auf soliden, durchdachten Füßen! 

**50 Prozent Wahlbeteiligung. Ist das bei anderen Akademien ähnlich oder sind die Mitglieder der Deutschen Filmakademie nur wahlfaul?**

ANNE LEPPIN: Alles andere würde uns skeptisch machen. Wir kriegen jedes Jahr sehr viele Emails von Mitgliedern mit ihrer Absage an der Wahlbeteiligung. Meist wird Zeitmangel angeführt, der einen fundierten Überblick über die Filme unmöglich mache. Uns ist es lieber, wenn dann nicht gewählt wird. Die mitmachen, haben sich wirklich eine Aufgabe gestellt. Von daher sind wir mit den 50 Prozent sehr zufrieden. Das ist völlig fein. Wir stehen mit allen anderen europäischen Akademien im Austausch. Dort sind die Wahlbeteiligungen fast identisch zu unserer. 

**Warum werden eigentlich nur zwei Kinderfilme nominiert?**

ANNE LEPPIN: Die Anzahl der Nominierungen richtet sich prozentual an den Einreichungen. Die Einreichungen ändern sich auch nicht: Es sind jedes Jahr knapp 65 Spielfilme, zehn Kinderfilme und 35 Dokumentarfilme. Nachdem die Dokumentarfilme vor geraumer Zeit so viel mehr wurden, sind wir von zwei auf drei Nominierungen übergegangen. Aber beim Kinderfilm sind prozentual zwei Nominierungen richtig. 

**Mit Blick auf u.a. die BAFTAs, die aufgehört haben, geschlechterzugeordnete Preise zu vergeben, sondern genderneutrale Preise vergeben, ist das ein Thema, das auch auf der Agenda der Deutschen Filmakademie steht?**

MARIA KÖPF: Wir haben mit den entsprechenden LGBTQ+-Gruppen immer wieder diskutiert, weil die Frage natürlich an uns herangetragen wird. Im Unterschied zur Berlinale zum Beispiel, die es umgestellt hat, geht es uns um die Genderzugehörigkeit der auszuzeichnenden Rolle. Wenn eine Rolle vornehmlich weiblich gelesen wird, wird sie bei uns für die beste weibliche Darstellung nominiert werden. Es gibt immer noch sehr wenige non-binäre Kinofilmrollen. Deshalb bestand für uns bisher nicht die Notwendigkeit, diesbezüglich zu reagieren. Es kann aber natürlich sehr schnell passieren, dass wir mit einer solchen Darstellung konfrontiert werden – im positiven Sinne! Dann müssen wir uns etwas überlegen. Das letzte Wort ist hier sicherlich noch nicht gesprochen.

Das Gespräch führten Barbara Schuster und Thomas Schultze.


Deutsche Filmakademie: „Auf alle Schultern verteilt“