Blickpunkt:Film

Kino

Blickpunkt:Film: Warum haben Sie sich entschieden, die letzten Tage Willy Brandts im Kanzleramt in den Mittelpunkt Ihres Zweiteilers zu stellen? Welches Bild von Brandt wollten Sie entwerfen?

Oliver Storz: Weil dieser kurze Zeitraum von der Rasanz des Ablaufs her am meisten Gefälle besitzt. Hier, in diesen zwölf Tagen zwischen der Verhaftung des DDR-Spions Guillaume und dem Rücktritt des Kanzlers, bot schon der blanke historische Vorgang eine dramatische Form an, die nicht erst vom Autor in die Fakten hinein getragen werden musste. Dies bedingte jedoch, dass ich die Gesamtpersönlichkeit Willy Brandts in diesem gedrängten Ablauf aufscheinen lassen musste, und zwar unter dem Schlagschatten seiner größten Niederlage. Das schien mir dann auch interessanter, psychologisch näher am Menschen Brandt zu sein, als die Errichtung eines Heldendenkmals.

BF: Sie sagten, Sie stehen dem Genre Doku-Drama und bebilderten Biografien misstrauisch gegenüber, wollten von Anfang an bewußt auf Vollständigkeit verzichten. Warum?

OS: Vollständigkeit hätte immer bedeutet: Aneinanderreihung der einzelnen Lebensstationen: erst war das, dann war das usw., also eine Art Abhak-Dramaturgie nach dem Prinzip: "Hab' ich auch alles drin?" So entsteht kein dramatischer Drive, keine Spannung. Das reine Addieren von Lebensfakten, die man dann dialogisiert, halte ich für langweilig und künstlerisch unergiebig.

BF: Wie wichtig war Ihnen historische Genauigkeit? Wo haben Sie sich Freiheiten genommen?

OS: Wesentliche Fragen zum Kapitel Kanzlerrücktritt sind bis heute ungeklärt und werden es wohl auch bleiben: Welche Rolle hat Wehner wirklich gespielt? Welche der damalige Innenminister Genscher, der Verfassungsschutzpräsident Nollau usw.? Welches war der wirklich ausschlaggebende Grund für den endgültigen Entschluss zum Rücktritt? All das liegt bis heute im Zwielicht, bietet der Fantasie eines Autors also einen Freiraum, mit Möglichkeiten zu spielen. Mein Stück sagt: "So könnte es gewesen sein", nicht: "So war es."

BF: Welches waren Ihre wichtigsten Quellen? Gab es jemanden, den Sie gerne befragt hätten, es aber nicht konnten?

OS: Mein historischer Berater Hermann Schreiber, damals als SPIEGEL-Reporter sehr nah an den Ereignissen und persönlich bekannt mit den Hauptakteuren, hat alle wesentlichen "Figuren", soweit sie heute noch leben, befragt. Dabei hat sich einmal mehr gezeigt, dass es "Die Wahrheit" nicht gibt. Jeder hat seine Wahrheit, die natürlich eine Version ist, im Zweifelsfall die für ihn günstigere.

BF: Der Zweiteiler wurde z.T. an Original-Locations gedreht, z.T. wurden aufwändige Bauten erstellt. Konnten Sie, was Drehorte und Ausstattung angeht, Ihre Wunsch-Vorstellungen umsetzen? Wo waren Ihnen Grenzen gesetzt?

OS: Wichtigster Schauplatz war das Palais Schaumburg in Bonn, damals Sitz des Bundeskanzleramts, das im wesentlichen außen wie innen noch so aussieht wie damals, während wir Brandts Dienstvilla auf dem Venusberg, die heute leer steht, für unsere Zwecke einrichten mussten. Die Dienstsitze von Genscher und Nollau mussten neu gesucht und eingerichtet werden, wobei wir uns eine gewisse Überhöhung geleistet haben, vor allem was die Großzügigkeit der Räume angeht. Für längere Dialogszenen braucht die Kamera viel Bewegungsfreiheit. Besonderen Aufwand erforderte die Rekonstruktion (im Studio) zweier Waggons aus dem Sonderzug, mit dem der Kanzler samt Journalistentroß damals viel unterwegs war.

BF: Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit mit [Regina Ziegler](/person/prof-regina-ziegler)? Hatten Sie weitgehend freie Hand?

OS: Entscheidend für die gute Zusammenarbeit war das starke persönliche Engagement Regina Zieglers für die Figur Willy Brandts, und auch für die Herangehensweise meiner Drehbücher. Hier bestand von Anfang an völlige Übereinstimmung, und insofern hatte ich weitgehend freie Hand. Dasselbe gilt übrigens auch für die Zusammenarbeit mit [Doris Heinze](/person/doris-j-heinze), der Leiterin der [NDR](/company/norddeutscher-rundfunk-ndr)-TV-Film-Abteilung.
Sehr vorteilhaft auf die Arbeit hat sich auch die Tatsache ausgewirkt, dass
[Dr. Jürgen Kellermeier](/person/dr-juergen-kellermeier), der Fernsehdirektor des NDR, einen lebhaften Bezug zu jener Zeit besitzt, in der er als Bonner Hörfunkkorrespondent des NDR tätig war.

BF: In dem zwei Filmen sind über 50 Schauspieler in Sprechrollen zu sehen, Sie konnten überwiegend sehr renommiert besetzen. Wie haben Sie die Schauspieler auf ihre Rollen vorbereitet? Worauf haben Sie dabei besonderen Wert gelegt? Es heißt, Sie hätten zunächst Vorbehalte gehabt, [Matthias Brandt](/person/matthias-brandt) als Günter Guillaume zu besetzen. Wie hat sich die Zusammenarbeit mit dem Brandt-Sohn letztlich gestaltet?

OS: Die Beantwortung dieser Frage würde ein eigenes Interview beanspruchen. Ich gehe daher nur auf die spezielle Frage nach der Besetzung der Guillaume-Figur mit Matthias Brandt ein. Dass er ausgerechnet den politischen "Mörder" seines Vaters spielen wollte, hat mich zunächst überrascht. In einem intensiven Gespräch stellte sich dann heraus, dass wir die zwiespältige, ja fast schizophrene psychische Struktur des Spions mit den zwei Loyalitäten ganz ähnlich sahen. Es war auch schnell klar, dass es Matthias nicht um die private "Bewältigung" einer schwierigen Vater-Sohn-Beziehung ging (was ich arbeitsmäßig für problematisch gehalten hätte), und schon gar nicht war er auf einen publizistischen Gag aus. Sein Interesse war vorrangig professionell-handwerklich: Er ist Schauspieler (und was für einer!), und da war für ihn eine faszinierende Rolle. Konkret begann die Zusammenarbeit damit, dass ich Matthias eine Freßkur verordnen musste, denn er war gertenschlank, während Guillaume gedrungen und feist aussah.

BF: Was für ein visuelles Konzept schwebte Ihnen vor? Warum haben Sie bewußt auf Material aus Dokumentarfilmen verzichtet?

OS: Mein Zweiteiler ist, wie ich mir einbilde, ein in sich geschlossenes Werk mit jeweils einem ziemlich genau kalkulierten Spannungsbogen. Dokumentareinschübe hätten diese Struktur durchlöchert. Mein Ehrgeiz war ja kein "Doku-Drama", sondern ein Drama. Wenn dies einigermaßen gelungen ist (und erste Reaktionen sprechen dafür), braucht es die Beglaubigung durch Dokumentaraufnahmen nicht. Anders als im Doku-Drama, wo die Spielszenen hauptsächlich als Illustration des dokumentarisch Mitgeteilten fungieren, soll mein Film eher eine Art - wenn sie so wollen - Politthriller sein, und da hat außerszenisches Material nichts zu suchen.

BF: Was macht das Thema heute so allgemein aktuell, bzw. auch für die häufig erwähnte Zielgruppe der 14- bis 49-jährigen - die auch die
öffentlich-rechtlichen Sender zunehmend im Blick haben - besonders reizvoll?

OS: Das weiß ich nicht, das müssen die sagen! Ich denke beim Arbeiten nicht an "Zielgruppen", aber ich könnte mir vorstellen, dass es auch heutige junge Leute spannend finden, von einer Reihe fabelhafter Schauspieler vorgeführt zu bekommen, wie Politik funktioniert.

BF: Der Zweiteiler wurde zunächst in Kopenhagen gezeigt, nun in Köln. Wie wichtig ist Ihnen so eine Festivalauswertung?

OS: In erster Linie die leibhaftige Begegnung mit Publikum, die man ja im Normalfall einer TV-Ausstrahlung nicht hat. Man spürt Reaktionen, die erwarteten, vor allem aber auch völlig überraschende - teils beglückend, teils bedrückend, weil man ja nichts mehr ändern kann.

BF: Es werden im Rahmen einer Retrospektive weitere Filme gezeigt. Welche Ihrer Filme sind Ihnen besonders wichtig und warum?

OS: Z.B. meine beiden letzten [ARD](/company/ard-pressestelle) -Filme "[Drei Tage im April](/movie/drei-tage-im-april)" und "[Gegen Ende der Nacht](/movie/gegen-ende-der-nacht)". Mir persönlich ist aber "Musik auf dem Lande" am liebsten. Eine
ironische Kleinstadtkomödie, das ist jetzt über zwanzig Jahre her, hat aber immer noch, so bilde ich mir ein, einen eigenen Charme.

BF: Sie gelten als Altmeister des deutschen Fernsehspiels. Wie ist es aus Ihrer Sicht heute um das deutsche Fernsehspiel bestellt?

OS: Also die Titulierung "Altmeister" mag ich nicht sehr. Alt meinetwegen, das ist ja eine Tatsachenfeststellung, aber "Meister" - du lieber Gott! Zur Frage selbst: darüber müsste man wieder ein eigenes Interview machen. Hier nur ein Symptom: schon das Wort "Fernsehspiel" ist ja aus der Mode gekommen. Wer was auf sich hält, sagt heute "TV-Movie", das klingt irgendwie nach Kino, in Wahrheit ein Kompensationswort, hinter dem sich der geheime Minderwertigkeitskomplex verbirgt, den viele "Fernsehspiel"-Macher dem Kinofilm gegenüber haben. Der kann den einen ebenso blockieren, wie er den anderen befeuert.

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