Blickpunkt:Film

Kino

Der Regisseur und Drehbuchautor [Burhan Qurbani](/person/burhan-qurbani) kehrte mit [„Kein Tier. So Wild.“](/movie/kein-tier-so-wild) zur Berlinale zurück und feierte im Special Premiere. Er sprach mit uns über die Inspiration zum Update eines Shakespeare-Klassikers und wie Migrationsgeschichte und Kriegserfahrungen seine Arbeit prägen. Das Drama startet am 8. Mai bundesweit.

**„Kein Tier. So Wild.“ ist Ihr dritter Film, mit dem Sie zur [Berlinale ](/company/internationale-filmfestspiele-berlin)eingeladen wurden. Was bedeutet das Festival für Sie?**

Ich habe gelesen, dass [Tom Tykwer](/person/tom-tykwer) gesagt hat, die Berlinale sei sein Lebensfestival. Ich will mir seine Worte leihen. Die Berlinale ist zu meinem Lebensfestival geworden: Mein Debüt bzw. mein Studenten-Abschlussfilm [„Shahada"](/movie/shahada) lief hier.  Man wurde mit voller Wucht in eine weltweite Öffentlichkeit katapultiert. Ich erinnere mich, dass nach der Premiere jemand zu mir kam und sagte: Du bist jetzt kein deutscher Filmemacher mehr, du bist jetzt ein internationaler. Das ist es, was die Berlinale mit einem machen kann. Es ist etwas ganz Besonderes, aber auch einschüchternd.

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***„Richard III“ ist eines meiner absoluten Lieblingsstücke“***

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**Nach[ „Berlin Alexanderplatz“](/movie/berlin-alexanderplatz_2) legen Sie wieder eine Klassikeradaption vor. Wie kamen Sie darauf, William Shakespeares „Richard III“ nach Berlin in die Gegenwart zu verlegen?**

Die Entstehung des Films begann 2020, fast direkt nach der Berlinale-Premiere von „Berlin Alexanderplatz“. Wir hatten so lange an diesem Film gearbeitet, waren bereit, auf Kinotour zu gehen, den Film in die Welt zu bringen und plötzlich stand mit dem Lockdown alles still. Ich bin in ein tiefes Loch gefallen und musste irgendwie herauskommen. Als ich auf Insta auf ein Bild stieß, auf dem drei arabische Mädchen in einer wüsten Gebirgslandschaft mit einer Krone offensichtlich Theater spielen, dachte ich in einer eigenartigen Verknüpfung von Gedanken: Das ist doch Shakespeare, das ist „Richard III“. In diesem Bild steckt ein Film. Shakespeare ist rechtefrei, also dachte ich, dass wir Ende des Jahres drehen könnten. Es war ein dummer Gedanke während der Pandemie, aber es hat mich irgendwie gerettet und gemeinsam mit meinen Produzent:innen haben wir den Film umgesetzt.

**Mit dem Bild stand auch fest, den Film mit einer weiblichen Hauptfigur zu machen?**

„Richard III“ ist eines meiner absoluten Lieblingsstücke. Es spielt in einem meiner Lieblingsromane, „Morgen in der Schlacht, denk an mich“ von Javier Marías, eine Rolle. Ich habe das Stück in der Schule gelesen, im Abitur durchgenommen. Ich liebe diese Figur einfach unglaublich. Sie taucht in meinen Filmen immer wieder auf, in [Joel Basmans](/person/joel-basman) irren Neonazi in [„Wir sind jung. Wir sind stark.“](/movie/wir-sind-jung-wir-sind-stark) und in [Albrecht Schuchs](/person/albrecht-schuch) charismatischen Soziopathen in „Berlin Alexanderplatz“. Und hier wollte ich die körperliche Einschränkung Richards III - bei Shakespeare hat er einen Buckel - auf die Stellung der Frau in der Community, in der ich die Geschichte erzähle, in einem arabischen Clan, übertragen. Dort ist allein die Tatsache, dass sie eine Frau ist, eine Einschränkung. Sie hat nicht die Macht, die Möglichkeiten, die Wahrnehmung, die die Männer um sie herum haben. In Rashidas erstem Monolog wird das deutlich.

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***„Menschlich, fair und nachhaltig. Diese Begriffe sind oft Worthülsen, aber bei uns waren sie spürbar.“***

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**Die Sprache ist faszinierend, Theater-Sprache mit modernen Tupfern. Wie haben Sie sie mit Autorin [Enis Maci](/person/enis-maci) erarbeitet?**

Ich wollte in der Sprache von Shakespeare bleiben. Da wir im Hier und Jetzt in Berlin in einer arabischen Community erzählen und mit Gender swappen spielen, dachte ich, dass man nicht einfach eine Übersetzung von Thomas Brasch aus den 80ern oder eine aus einer anderen Zeit nehmen kann. Es musste von einer Person unserer Zeit übersetzt werden. Ich habe sie in Enis Maci gefunden, die Migrationsgeschichte hat und eine brillante Essayistin und Theaterautorin ist. Sie hat Shakespeare praktisch in ihrer Sprache ins Deutsche geholt. Einige Szenen haben wir frei erfunden, andere angepasst, um dem heutigen Kontext gerecht zu werden, eine Einführung zu liefern. Ich hatte als Regisseur nicht nur die präzise Gebrauchsanweisungen eines Drehbuches, sondern auch noch eine unglaublich schöne Sprache, mit der ich auf eine ganz andere Weise mit den Schauspieler:innen arbeiten konnte. Deshalb war es mir wichtig, dass unsere Schauspieler:innen alle auch Theatererfahrung mitbringen und wissen, wie man so einen Text auch ganz intim erzählt.

**Es ist ein spannender Cast, insbesondere Hauptdarstellerin [Kenda Hmeidan](/person/kenda-hmeidan) ist beeindruckend. War sie Ihre erste Wahl?**

Das Schöne an der Arbeit im Team ist, dass man sich auf Expert:innen verlassen kann. Seit „Berlin Alexanderplatz“ arbeite ich mit [Suse Marquardt](/person/suse-marquardt), meiner Castingdirektorin. Sie stellte damals die Besetzung von Albrecht Schuch und [Jella Haase ](/person/jella-haase)zusammen und entdeckte [Welket Bungué](/person/welket-bungue) für die Hauptrolle. Auch bei „Kein Tier. So Wild.“ hat sie großartige Arbeit geleistet und Kenda Hmeidan entdeckt. Kenda studierte in Damaskus an der Schauspielakademie und konnte über das Exilensemble des Gorki Theaters nach Deutschland kommen und hier arbeiten. Sie hat Deutsch quasi auf der Bühne gelernt. Ihre Sprache ist näher an Shakespeare als an unserem Alltagsdeutsch. 
Ein Teil der - ich sage mal - Unverschämtheit an diesem Film ist, dass wir keinen Straßenslang einbauen, sondern dass diese Menschen, die alle eine Migrationsgeschichte und Kriegserfahrung haben, in allerbestem Deutsch reden. Das hat viel mit mir und meinem Zugang zu Sprache zu tun. Meine Eltern sind aus Afghanistan geflohen und ihnen war wichtig, dass ihre Kinder Deutsch sprechen. In der Fremde bedeutet das, die  Landessprache zu beherrschen, Unabhängigkeit und sein eigenes Leben in die Hand nehmen zu können. Auf den Film übertragen bedeutet es, dass die Figuren nicht nur sehr gutes Deutsch sprechen, sondern literarisches.

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***„Ich wollte die filmische Welt selbst aufbrechen und die Zuschauer in das Innere der Protagonistin Rashida eintauchen lassen.“***

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**„Kein Tier. So Wild“ ist noch unkonventioneller als „Berliner Alexanderplatz“. Etwa findet ein Teil in einer Kulisse eines Zeltes statt. Warum? Was inspirierte Sie zur besonderen Ästhetik?**


Ich wollte nicht einfach wieder klassische Stoffe ins Heute übersetzen und sie dann brav abfilmen. „Berlin Alexanderplatz“ war sicher nicht brav, aber hier bot sich noch viel mehr die Gelegenheit, die Grenzen noch weiter auszuloten. Shakespeare gibt uns diese Freiheit dazu. Es reicht nicht, nur die vierte Wand zu durchbrechen. Ich wollte die filmische Welt selbst aufbrechen und die Zuschauer in das Innere der Protagonistin Rashida eintauchen lassen. Wir befinden uns dann quasi im Globe Theatre. Diese Idee habe ich mit meinem kreativen Kernteam – Kamera, Kostüm, Szenenbild und Maske – diskutiert. Unsere Szenenbildnerin [Jagna Dobesz](/person/jagna-dobesz) hat mir ein Bild mit einer Installation geschickt: ein Zelt, das wie ein Flüchtlingszelt von innen aussah, mit einer völlig verschlammten Umgebung, das sofort etwas in mir ausgelöst hat. Wir haben diesen Raum für den Film im Studio nachgebaut. Kameramann [Yoshi Heimrath](/person/yoshi-heimrath) hat mit seiner Magie, mit Licht und Schatten den Ort weiter verfremdet, sodass man als Zuschauer:in den Bühnenraum und die Filmrealität wahrnimmt.

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**„Kein Tier. So wild.“** *Port au Prince*

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**Der Film entstand mit französischen und polnischen Partnern. Wie sah die Zusammenarbeit aus?**

„Berlin Alexanderplatz“ war bereits eine deutsch-holländische Koproduktion. Ab einem bestimmten Budget muss man in Europa mit Partnern arbeiten. Die Zusammenarbeit war aber nicht nur notwendig, sondern auch bereichernd. Etwa die Erfahrung, wie unterschiedlich die Herangehensweise an Film und Kinos in den jeweiligen Ländern ist. In Polen ist Kino, sind Kameraleute, die in Hollywood arbeiten, oder Regisseure wie [Kieslowski](/person/krzysztof-kieslowski) oder [Polanski](/person/roman-polanski) ein Teil der nationalen Identität. Am Set im Studio hatte ich ein Team, in dem fast jedes Mitglied bereits Filme bei A-Festivals hatte, Jagna hat etwa für die Cannes-Premiere [„Das Mädchen mit der Nadel“](/movie/pigen-med-nalen) vor kurzem den Europäischen Filmpreis gewonnen. Es war ein Privileg, mit ihnen zu arbeiten.

**Sommerhaus hat ihre letzten Spielfilme produziert. Was zeichnet diese Zusammenarbeit aus?**

Wir haben eine gemeinsame Vergangenheit an der [Filmakademie Baden-Württemberg](/company/filmakademie-baden-wuerttemberg). Wir waren rund 300 Studierende in Ludwigsburg, mit nur 2 Kneipen und einem Club. Das hat uns zusammengeschweißt. Was [Jochen Laube ](/person/jochen-laube)und [Fabian Maubach](/person/fabian-maubach) von Sommerhaus auszeichnet, ist ihr großes Vertrauen in ihr Team – sowohl in die Produzierenden als auch in die Regie. Sie sind offen für ganz unterschiedliche Projekte, lassen sich von ihren Regisseurinnen und Regisseuren inspirieren. [Sophie Cocco](/person/sophie-cocco) und [Leif Alexi](/person/leif-alexis)s lieben das Kino und wollen Filme auf eine bestimmte Art und Weise realisieren: menschlich, fair und nachhaltig. Diese Begriffe sind oft Worthülsen, aber bei uns waren sie spürbar. Die Atmosphäre am Set war krass familiär. Ein kleines Ritual hat dazu beigetragen: Ich gehe morgens über das Set und sage jeder Person – vom Catering bis zum Hauptdarsteller „Guten Morgen, hab einen schönen Tag!“. Und bevor ich gehe, bedanke ich mich bei jedem Einzelnen. Das klingt banal, aber nach ein paar Drehtagen haben es alle übernommen. Diese Wertschätzung macht einen enormen Unterschied. Natürlich gibt es stressige Momente und Konflikte, aber wir haben es immer geschafft, respektvoll miteinander umzugehen.

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***„Wir müssen nicht nur nach neuen Produktionsmitteln suchen, sondern nach neuen narrativen Strategien.“***

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**Wie hat sich der Film im Lauf der Realisierung entwickelt?**

Anfangs hatten wir die Idee, den Film stilistisch ähnlich wie „Berlin Alexanderplatz" zu gestalten. Der Film „sprach“ mit mir, er forderte etwas anderes. Ich arbeite viel mit Bildern aus der Kunst, aus dem Tanz, aus der Malerei – weniger mit Referenzen aus anderen Filmen. Ich teile sie mit meinem Team, um zu sehen, was sie in ihnen auslösen. Die wichtigste Frage in der Vorbereitung ist „Warum nicht?“ Warum sollten wir nicht eine Idee ausprobieren, statt sie von vornherein als unrealistisch oder nicht umsetzbar abzutun? Der Realitätstest kommt ohnehin – spätestens, wenn die Finanzabteilung sagt, „Ihr spinnt wohl“.  Zurück zur Frage. Die erste Idee hat nichts mit der finalen Fassung zu tun. Aber, was sich durch alle Entwicklungsstufen zieht, sind die Grundgedanken. Öl, Kriegserfahrungen, Flucht, Macht, Verrohung und Gewalt, dieser Zyklus aus Gewalt und Trauma. Ich bin in den 80er und 90er Jahren groß geworden. Die Golfkriege und die Zerstörung ganzer Regionen haben mich geprägt.

**Letzte Frage: Wie sehen Sie die Situation des Arthouse-Kinos?**

Ein Produzent sagte neulich zu mir: „Das Problem sind nicht die kleinen oder die großen Filme, es sind die mittleren Produktionen, die wegbrechen.“ Es wird immer ein engagiertes Team geben, das einen Film für 100.000 Euro dreht, und ein Studio, das 200 Millionen in einen Blockbuster investiert. Ich denke, wir müssen nicht nur nach neuen Produktionsmitteln suchen, sondern nach neuen narrativen Strategien. In Ländern mit geringen Budgets oder Zensur – wie im Iran oder früher in Polen, Rumänien oder der Türkei – sind oft die innovativsten Werke entstanden. Und Dogma 95 in Dänemark hat gezeigt, wie man mit finanzieller Restriktionen kreativ umgehen kann. Ich würde viel mehr in Drehbuchförderung investieren, in Schreibworkshops und Filmbildung an Schulen. Film sollte ein Schulfach sein. Nicht nur, um bessere Filmemacher hervorzubringen, sondern auch, um die Medienkompetenz der Gesellschaft zu stärken. In einer Zeit, in der wir medial transparenter und manipulierbarer sind als je zuvor, ist es essenziell zu verstehen, welche Macht Bilder, kurze Clips und Filme haben und wie wir sie aushebeln bzw. wie wir uns aus der medialen, „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ befreien können.

#### ZUR PERSON: Burhan Qurbani

Der Filmemacher, Jahrgang 1980 startete seine Karriere am Theater bevor er sein Studium an der Filmakademie Ludwigsburg begann. Sein Abschlussfilm „Shahada" feierte 2010 im Wettbewerb der Berlinale Premiere und wurde mehrfach international ausgezeichnet. Sein zweiter Langspielfilm „Wir sind jung. Wir sind stark.“ eröffnete 2014 das Filmfest in Rom und die [Hofer Filmtage](/company/internationale-hofer-filmtage). 2020 war er mit „Berlin Alexanderplatz“ erneut im Wettbewerb der Berlinale. Die freie Döblin-Adaption gewann fünf Lolas.

Burhan Qurbani zu „Kein Tier. So Wild“: „Zyklus aus Gewalt und Trauma“