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Neuerzählung der klassischen Horrorgeschichte, in der ein Wissenschaftler eine Kreatur schafft und einen hohen Preis dafür zahlen muss.

Es ließe sich mühelos argumentieren, dass [Guillermo Del Toro](/person/guillermo-del-toro) geboren wurde, „[Frankenstein](/movie/frankenstein_c)“ zu verfilmen. Dass jeder seiner Filme seit „The Devil’s Backbone“, insbesondere sein Oscargewinner „Shape of Water: Das Flüstern des Wassers“, zumindest Spurenelemente von Mary Shelleys Schreckensmär aus dem Jahr 1818 vom modernen Prometheus enthält. Dass er seit 30 Jahren darauf hingearbeitet hat, den Urtext seiner persönlichen Weltsicht selbst verfilmen zu können: Das vermeintliche Monster ist unschuldig und rein und pur, die Menschen sind die wahren Monster, mit ihnen die unnachgiebige Gesellschaft und ihre Institutionen. Nachdem Del Toro mit „Pinocchio“ zuletzt eine weitere prägende klassische literarische Vorlage als Animationsfilm für Netflix hatte realisieren können, stellte ihm der Streamer nun dem Vernehmen nach 250 Mio. Dollar für die Erfüllung seines ultimativen filmischen Traums zur Verfügung, die erste große Hollywoodverfilmung des Stoffs seit 1994, als Kenneth Branagh sich selbst als Frankenstein und Robert De Niro als das Monster inszeniert hatte, mit äußerst bescheidenem kommerziellen Erfolg übrigens mit knapp 115 Millionen Dollar Einspiel weltweit. 

Als Fest für Augen und Sinne hat Guillermo Del Toro seinen „Frankenstein“ entworfen, was niemanden verblüffen kann, der seinen „Crimson Peak“ (eine Verbeugung vor „Rebecca“) oder „Nightmare Alley“ (eine Verbeugung vor „Freaks“) gesehen hat, ebensolche Augenschmäuse, visuelle Spektakel im Spannungsfeld zwischen klassischem Horror und raumgreifendem Melo, tief romantische Erinnerungen daran, was die alten Hollywoodstudios einst am besten beherrschten und dann amplifiziert mit allem, was die Gewerke hergeben. Mehr Ausstattungskino geht nicht. Mehr Liebe zu Kostüm, zu Szenenbild, zu allen künstlerisch kontrollierbaren Details geht nicht. Mehr Süffigkeit und Wonne und Modulation geht nicht. Triumph des Artifiziellen. Anders als die Kreatur, die Victor Frankenstein erschafft, aus Einzelteilen im Krieg gefallener Männer, in einem Fiebertraum, der Obsession mit Wahnsinn flirten und die Grenzen dann überschreiten lässt, ist es ein Film aus einem Guss, unverkennbar ein Werk seines Machers, eine folie und Verrücktheit vielleicht, ein Gothic Epic, das die Augen übergehen lässt. Wenn sie einem zwischenzeitlich nicht manchmal kurz zufallen, denn für einen Film, in dem sich alles darum dreht, leblose Masse mit Leben zu erfüllen, Leben zu erschaffen, der erfüllt ist mit Leidenschaft und Besessenheit und auf der Klaviatur der großen Emotionen von Liebe und Hass und Vergebung spielt, ist er doch auch blutleer geworden, ein Exerzitium, so sehr entworfen und gestaltet, dass ihm jede Spontaneität ausgetrieben wurde, der Lebensfunke eine Behauptung, eine Imitation des Lebens. Und vermutlich ist es genau das, was Guillermo Del Toro auch angestrebt hat: eine Kreation allein mit den Mitteln absoluter Inszenierung, Künstlichkeit kommt von Kunst – auch wenn man sich wünschen würde, dass die absolute Kontrolle über das Material sich auch auf die üppige Laufzeit von 150 Minuten übertragen hätte.

Als einer der grundlegenden Horrorstoffe neben Dracula, Dr. Jekyll & Mr. Hyde und dem Werwolf bezieht „Frankenstein“ seine Zeitlosigkeit aus dem Motiv der Hybris des Menschen, Gott spielen zu wollen, sich zum Herrn über Leben und Tod aufzuschwingen. Das spiegelt auch Del Toro, der darin auch sich selbst wiedererkennt, der Regisseur, der Leben auf der Leinwand erschafft und es dort auch nach Belieben wieder nehmen kann, was in „Frankenstein“ bis zum blutigen Exzess in einer Explosion auf Grand Guignol durchexerziert wird. Er übernimmt die grundsätzliche Struktur der Vorlage, gestattet sich bei der Ausgestaltung aber viele Freiheiten, reichert die Geschichte um neue Facetten und Motive an, formt einen Stoff, der gleichermaßen vertraut erscheint und neue Wege geht, eine andere Lesart als bislang bekannt anbietet, im Zentrum vom Fluch des Lebens erzählt, von der Last der Unsterblichkeit, den Vampirmythos auf den Frankensteinmythos aufsetzt. In drei Teile ist „Frankenstein“ aufgeteilt. Im Prolog im ewigen Eis der Antarktis findet ein festsitzender dänischer Schoner nach einer gewaltigen Explosion den schwer verletzten Victor Frankenstein vor und muss ihn schon bald gegen die Angriffe der übermenschlich starken und unzerstörbar erscheinenden Kreatur verteidigen. 

In Rückblenden folgen „Victor’s story“ und schließlich „The Creature’s story“, hier beginnen auch die Freiheiten. Bis in die Kindheitstage Frankensteins geht Guillermo Del Toro zurück, erzählt von einem grausamen Übervater, ein genialer Chirurg, gespielt von Charles Dance, dem der junge Frankenstein vorwirft, er habe die von ihm über alles geliebte Mutter sterben lassen, und schwört, er werde den Vater übertreffen und beweisen, dass man aus toter Masse Leben erschaffen kann. Finanziert von dem österreichischen Mäzen Harlander, gespielt von Christoph Waltz, gelingt dem nunmehr von Oscar Isaac gespielten Frankenstein genau das in einer einsamen Trutzburg, einem Wasserturm an einem Schweizer See, besessen von seiner Idee, aber auch seiner Leidenschaft für die Verlobte seines von Felix Kammerer gespielten Bruders, Elizabeth, gespielt von einer völlig überforderten Mia Goth, die auch schon als Victors Mutter zu sehen war. Als Elizabeth den Wissenschaftler abweist, der angeketteten Kreatur aber ihre Zuneigung schenkt, ihr das erste andere Wort als „Victor“ entlockt und zeigt, dass womöglich doch ein Intellekt hinter dem vernarbten Gesicht lauert, brennt Frankenstein sein Labor nieder und überlässt seine Schöpfung ihrem Schicksal, das in den folgenden Rückblenden aus seiner Sicht erzählt wird, die Menschwerdung durch die Freundschaft des blinden Mannes und die Jagd nach dem Schöpfer ans Ende der Welt, wo sich ihr Schicksal erfüllen wird. 

Für einen Film, der nicht müde wird, sich fortwährend psychotherapeutischen und philosophischen Überlegungen hinzugeben und zahllose Verweise an diverseste Motive aus der Filmgeschichte in das Narrativ zu verweben, ist es überraschend, dass seine zentrale Geschichte so unterentwickelt und profan erscheint. Dass die Schauspieler damit zu kämpfen haben, ihre Texte überzeugend zu deklamieren, und nur die wirklich überzeugen, die erkennbar Theatererfahrung haben (Dance, Kammerer), würde schwerer wiegen, wenn in der zweiten Hälfte nicht Jacob Elordi mit einer regelrecht elektrisierenden Ausstrahlung als Kreatur ins Zentrum des Geschehens rücken würde: Wenn er im Bild ist, entfaltet sich Magie, transzendiert der Film seine Inszenierung. Dann staunt man nicht nur über die Gestaltung, sondern ist auch ergriffen von der Erzählung. Davon hätte es mehr gebraucht, dann wäre „Frankenstein“ tatsächlich alive. 

Thomas Schultze



REVIEW VENEDIG: „Frankenstein“