Blickpunkt:Film

Kino

Wie jedes Jahr kehre ich beseelt und um viele Eindrücke und Erlebnisse reicher von der Croisette zurück. Nichts prägt den Arthousemarkt so sehr wie das Festival de Cannes,
das den Beginn einer neuen Kinosaison markiert und gleichzeitig dazu einlädt, auf die vergangene zurückzublicken.

Im Frühjahr führten zwei deutschsprachige Filme die Charts an: [The Zone of Interest](/movie/the-zone-of-interest) in den Arthouse-Charts und [Chantal im Märchenland](/movie/untitled-constantin-event-film) im Gesamtmarkt. Beide Erfolge sind das Ergebnis der engagierten Arbeit ihrer Verleiher, erforderten aber aufgrund ihrer inhaltlichen Verschiedenheit auch unterschiedliche Ansätze, um zu Erfolgen zu werden. Den hoch budgetierten Reichweitenkampagnen im Mainstream steht der Arthousefilm gegenüber, für den der gezielte Publikumskontakt der Kinos immer bedeutsamer wird. Wenn wir diese Spezifitäten zwischen Arthouse und Mainstream nicht anerkennen, werden wir keinem von beiden gerecht.

Es geht nicht darum, Filme oder Kinos gegeneinander auszuspielen. Arthouse und Mainstream brauchen einander für einen gesunden Gesamtmarkt. Der kleine Kunstfilm von heute probiert aus, was für die Blockbuster von morgen zur Gewohnheit wird. So hätte es den globalen Erfolg von [Barbie](/movie/barbie) ohne [Frances Ha](/movie/frances-ha) und [Lady Bird](/movie/lady-bird) nie gegeben. Das hat man in Frankreich verstanden – in kleinen Gesten wie etwa der [Modern Love](/movie/modern-love_9)-Hommage an [Greta Gerwig](/person/greta-gerwig) bei der Cannes-Eröffnung, und in großen Maßnahmen wie der Programmkinoklassifizierung, die die Bedeutung des Sektors für den Gesamtmarkt anerkennt.

Der riesige Zuspruch gerade des jungen Publikums für komplexe Filme wie [Anatomie eines Falls](/movie/anatomie-dune-chute), [Poor Things](/movie/poor-things_8) oder The Zone of Interest zeigt: eine Generation, die mit sozialen Medien aufgewachsen ist, schätzt Kino, das deren Logik sprengt. Kino, in dem wir Ambivalenzen aushalten, mehrere Perspektiven verstehen, ungeteilte Aufmerksamkeit schenken müssen.

Tech-Plattformen umgeben uns zunehmend mit Inhalten, die unsere Meinung bestätigen, maschinell ausgewählt, um unsere Aufmerksamkeit möglichst lange zu binden. Die Folge: alles, was zum Nachdenken und nicht zum Weiter- scrollen verführt, verschwindet. In seinem Essay »Filterworld« setzt sich der Journalist Kyle Chayka damit auseinander, wie Algorithmen Kultur und Kunst verändern und spricht von einer Verflachung von Kultur: »Das Populäre wird noch populärer, und das Seltene wird noch seltener sichtbar.«

Durch KI werden die Effekte von Filterblasen und Echokammern also noch drastischer. Wir werden nicht mehr wissen, ob wir dieselben Bilder, Nachrichten und Filme wie andere sehen. Umso wichtiger sind Orte, an denen wir die Wirkung von audiovisuellem Erzählen reflektieren – und das nicht nur mit Menschen, die unsere Meinung teilen.
Wenn es Kino nicht gäbe, müssten wir es also genau jetzt erfinden: als einziges audiovisuelles Medium, das nicht in Echtzeit jede Sekunde die Reaktion seines Publikums überwacht und optimiert; das von Kreativen nicht verlangt, Algorithmen zu bedienen. Genau darin liegt die Kraft des Kinos im 21. Jahrhundert. Welches andere Medium lässt uns drei Minuten Ouvertüre und Schwarzbild erleben und dabei reflektieren, ohne das Handy hervorzuholen? Sicher nicht TikTok.

![»Wir brauchen Kunst, die die Logiken unseres neuen Zeitalters und unseren Umgang mit ihnen hinterfragt. Es liegt an uns.« (Foto Andi Weiland)](https://s3.eu-central-1.amazonaws.com/zone.busch.store.image/026f5dd1-0af2-4ec5-8296-e26e987bdaa7.jpg)

Der Kinofilm ist eine der prägenden Kunstformen unserer Zeit. Wim Wenders brachte es beim B.Z.-Kulturpreis Anfang Mai auf den Punkt: »Filme herstellen ist ein kreativer Akt, ein technischer, viel- leicht auch ein wirtschaftlicher. Kultur wird der Film erst, wenn er im Saal auf das Publikum trifft.« Erst im Kino erhalten und entfalten Filme ihren gesellschaftlichen Mehrwert.

Die Strukturreform der Filmförderung kommt zur richtigen Zeit. Gelingen wird sie nur mit einem starken Kinofundament und einem ganzheitlichen Ansatz, der Kino und Verleih mitdenkt. Als Schlüssel für den Weg der Filme zum Publikum lässt sich die kulturelle wie wirtschaftliche Zukunft des deutschen Kinos nur mit ihnen sichern. Insofern ist es begrüßenswert, dass nun über die Ausgestaltung der kulturellen Film-, Verleih- und Kinoförderung diskutiert wird. Als vierte Säule ist sie ein entscheidender Baustein für den Erfolg des Reformwerks.

Wie alle anderen Gewerke brauchen die Filmtheater verlässliche Rahmenbedingungen und ein Fördermodell, das sowohl ihre Programmarbeit stützt als auch Investitionen ermöglicht. In der fragmentierten Medienwelt sind Kino- und Verleiharbeit gerade beim kulturell ambitionierten Kinofilm komplexer geworden. Die Logik der Algorithmen zu durchbrechen ist harte Arbeit und erfordert eine enge Vernetzung mit dem Publikum. Dies fordert Ressourcen, die für fortlaufende Investitionen in Technik und Marketing benötigt werden. Das Geschäftsmodell Arthousekino bietet indes kaum Spielraum, diesen Aufwand aus eigener Kraft zu stemmen.

Umso wichtiger sind deshalb Initiativen wie das Zukunftsprogramm Kino, die Investitionen ermöglichen und Standorte erhalten und stärken. Die rasche Überzeichnung binnen weniger Sekunden ist ein eindrucksvoller Beleg für den Innovationswillen und den immensen Handlungsbedarf. Wollen wir das Kino in all seinen Facetten erhalten, brauchen wir Konzepte wie das Zukunftsprogramm Kino und den Willen, es auf eine stabile finanzielle Basis zu stellen. Nach den vielen Kürzungen muss es jetzt vorrangig um den Ausbau der Kinoförderung gehen. Denn verlieren wir die Kinos, wird es in Zukunft erheblich teurer, die (film-) wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Schäden auszugleichen.
Die Gestaltung einer zeitgemäßen Filmförderung ist ein Kraftakt. Dabei dürfen wir nicht außer Acht lassen, dass wir am Beginn eines neuen Zeitalters stehen. KI wird gewaltige Disruptionen in vielen Bereichen unserer Gesellschaft mit sich bringen. Angesichts des rapiden Tempos der technologischen Entwicklung ist es essenziell, jetzt Regeln festzulegen, die sowohl die Rechte der Kreativen berücksichtigen als auch Innovation ermöglichen und nachvollziehbar darlegen, welche Spielregeln bei öffentlicher Förderung im Umgang mit KI für alle Beteiligten gelten.

Die Unterscheidung zwischen Unterhaltung und Kunst wird im KI-Zeitalter wichtiger denn je. Wir brauchen Kunst, die die Logiken unseres neuen Zeitalters und unseren Umgang mit ihnen hinter- fragt. Es liegt an uns, die Chance zu ergreifen, die elementaren Pfeiler unserer kulturellen Landschaft zu sichern. Gemeinsam können wir ein neues goldenes Zeitalter des deutschen Kinos einläuten. Denn wie Sean Baker bei der Verleihung der Goldenen Palme in Cannes sagte: »The future of cinema is where it started: in a movie theater.«

Christian Bräuer: »Wenn es Kino nicht gäbe, müssten wir es erfinden«

Christian Bräuer. Vorstandsvorsitzender. Geschäftsführer der Yorck-Kino GmbH in Berlin und der Programmkino Ost GmbH in Dresden

++ am 08.07.2020 in Berlin (Berlin).

(c) Andi Weiland | www.andiweiland.de